Südtirol, ein Vorbild mit Narben

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Symbolbild. (c) REUTERS (Dominic Ebenbichler)
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Die autonome Region gilt als Erfolgsmodell für ein friedliches Zusammenleben verschiedener Sprachgruppen. Trotzdem ist die Geschichte des Landes noch spürbar. Wer sind sie eigentlich, die Südtiroler? Eine Einordnung vor der Landtagswahl.

Als Südtiroler oder Südtirolerin muss man manchmal das Land verlassen, um sich der Eigenheit bewusst zu werden. Man kann zum Beispiel Richtung Süden fahren, ins tiefste Italien, wo man auf den mit den Jahren eingebrannten deutschen Akzent angesprochen wird. Oder darauf, dass der Personalausweis auf grünem Papier gedruckt ist – und nicht, wie bei allen anderen, bräunlich-violett. Ein Zeichen für autonome Provinzen des Landes. Ach, man kommt aus Südtirol? Das gehöre ja zu Italien, stimmt. Ganz vergessen.

Oder man fährt nach Norden, nach Österreich zum Beispiel. Je näher die Bundeshauptstadt rückt, desto sentimentaler die Reaktionen: Ach, Südtirol! Das gehört ohnehin zu uns, Scherz beiseite. Dort redet man also wirklich auch Italienisch? Stimmt, es ist ja alles mehrsprachig.

Südtirol ist tatsächlich ein bisschen etwas von allem, mediterran und alpin: Auf dem eigenen Pass steht „Repubblica Italiana“, doch als Schutzmacht agiert Österreich. Deutschsprachige sind eine Minderheit im Staat, aber eine selbstbewusste Mehrheit in der Region. Am Abend kann man wählen, ob man die lokalen Nachrichten auf Italiens öffentlich-rechtlichem RAI-Sender schaut, oder doch den ORF mit „Südtirol Heute“ einschaltet. Weltweit gilt die Autonomie als Vorbild für ein friedliches Zusammenleben. Jede der drei Sprachgruppen hat ihre eigenen Kindergärten und Schulen, an der Universität in Bozen wird in mehreren Sprachen gelehrt.

Ein Proporzsystem regelt das (öffentliche) Leben in Südtirol: Spätestens nach seinem 18. Geburtstag muss jeder Bewohner eine sogenannte Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung abgeben. Er gibt also an, sich eher als deutschsprachig, italienischsprachig oder Ladiner zu fühlen. Überprüft wird die Angabe nicht, es ist eine rein individuelle Entscheidung. Wichtig wird sie für den Betroffenen selbst meist ohnehin nur bei der Vergabe öffentlicher Stellen, die nach einer Quote vergeben werden.

Für Freunde von Statistiken lässt sich durch die Zugehörigkeitserklärung außerdem feststellen, dass 314.000 Menschen (69,4 Prozent) in Südtirol deutschsprachig sind. Zur italienischen Sprachgruppe fühlen sich rund 118.000 Personen (26,1 Prozent) zugehörig. 4,5 Prozent (20.500 Menschen) sind hingegen Ladiner, sie sprechen eine Art Rätoromanisch.


Absolut, aber nicht allein. Auch in der Politik herrscht der Proporz mit: Die Südtiroler Volkspartei regierte mehr als sechs Jahrzehnte lang mit absoluter Mehrheit, aber nicht allein. Denn die italienische Sprachgruppe muss in der Landesregierung vertreten sein. In der Vergangenheit kooperierte die SVP daher mit dem Partito Democratico (PD), den Sozialdemokraten.

Diese Zusammenarbeit funktioniert auch bei Italiens Parlamentswahlen: Die Südtiroler Volkspartei kandidiert auf nationaler Ebene traditionell als Teil des Mitte-links-Bündnisses. Dort werden die Anliegen der Minderheit am ehesten gehört. Auf Europaebene sucht die SVP aber eher die Nähe zu anderen konservativeren Volksparteien. In Österreich sind die Kontakte zu Bundeskanzler Sebastian Kurz am engsten. Doch die Südtiroler Volkspartei ist in erster Linie pragmatisch, dann erst ideologisch. Man sieht sich als Vertreter der deutsch- und ladinischsprachigen Gruppe. Nachdem es nur italienischsprachige Sozialdemokraten gibt, will man diesen Part für die gesamte Bevölkerung abdecken – auch wenn der Arbeitnehmerflügel in der SVP vergleichsweise schwach ist.

Doch so eigen ist selbst Südtirol nicht, dass ein europaweiter Trend kurz vor dem Brenner haltmachen würde: Auch die Südtiroler Volkspartei büßt, wie viele Sammelparteien, im Lauf der Zeit an Stimmen ein. Im Jahr 2013 war sie zwar wieder die stärkste Kraft, verlor aber mit 45,7 Prozent die absolute Mehrheit.

Heute, Sonntag, stellt sich die SVP mit Landeshauptmann Arno Kompatscher der Wiederwahl. Es droht ein weiterer Machtverlust – man hofft, zumindest über der 40-Prozent-Marke zu bleiben. Auch die Koalitionspartei PD ist schwach und, wie viele linke Parteien in Italien, innerlich zerstritten. Der SVP könnten also nicht nur wichtige Stimmen, sondern auch ein stabiler Partner abhandenkommen.

Die rechtspopulistischen Parteien sind hingegen im Aufwind: Die Schwesterpartei der FPÖ, die Südtiroler Freiheitlichen, erreichten 2013 knapp 18 Prozent der Stimmen. Ihr langfristiges Ziel ist unter anderem der „unabhängige Freistaat Südtirol“ – im Wahlkampf spielt aber vor allem das Thema Ausländer eine Rolle. Und dann wäre da noch die Süd-Tiroler Freiheit, die zuletzt 7,2 Prozent der Stimmen erhielt. Der Bindestrich ist kein Tippfehler, sondern politisches Programm: Die Bevölkerung müsse darüber abstimmen, ob Südtirol wieder zu Österreich gehören oder ein eigener Staat werden soll. Die Doppelstaatsbürgerschaft, die Österreich den Südtirolern verleihen möchte, ist vor der Landtagswahl allerdings kaum Thema.


Heikle Frage nach Identifikation. Die Frage nach der Identifikation der Südtiroler ist schwierig. Wissenschaftlich geht ihr in regelmäßigen Abständen das Landesstatistikinstitut Astat nach. Laut Erhebung des Sprachbarometers von 2004 bezeichneten sich 85,6 Prozent der deutschsprachigen Bewohner als Südtiroler, 2,6 Prozent als Tiroler, niemand als Österreicher.

Zehn Jahre später gaben 80,7 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung an, sich als Südtiroler zu fühlen. 2,2 Prozent als Österreicher, 9,2 Prozent als Tiroler, knapp zehn Prozent als Italiener. Als Minderheit gibt es außerdem eine tiefe Verbundenheit zur EU.

Trotz aller Regeln und Gesetze, aller internationaler Vorbildwirkung ist das Zusammenleben auch in Südtirol nicht immer friktionsfrei. Die italienischsprachige Bevölkerung lebt hauptsächlich in den Städten, im ländlichen Raum haben Deutschsprachige oft wenig Kontakt zu den anderen Gruppen. Italiener werden verächtlich „Walsche“ genannt, sie schimpfen wiederum „Crucchi“ zurück. Mehrsprachigkeit wird nicht überall als Vorteil angesehen.

Um Südtirol zu verstehen, um zu wissen, was die Geschichte des Landes ausmacht, muss man es eben manchmal verlassen. Man kann nach Berlin reisen, in den westlichen Bezirk Charlottenburg. Zwischen Botschaften und Sozialwohnungen, irgendwo in der Leistikowstraße, steht ein vierstöckiges Haus. Die Außenwände sind schön gestrichen, der Garten gepflegt. Man merkt ihm die Historie nicht an: Vor 79 Jahren verließ eine Südtirolerin ihre Heimat, um hier als Haushaltshilfe zu arbeiten – nicht freiwillig.

Denn am 21. Oktober 1939 wurde die Südtiroler Bevölkerung vor eine Wahl gestellt, die keine war: Entweder sie bleiben in ihrem Land, werden dann aber zwangsitalianisiert, so die Drohung: Deutsche Schulen sind verboten, Deutsch als Amtssprache ohnehin, selbst Rufnamen sollten „übersetzt“ werden. Als Alternative galt der Abschied aus dem eigenen Land, eine Umsiedelung ins Deutsche Reich. Man sollte also wählen zwischen Benito Mussolini und Adolf Hitler. Die Diktatoren einigten sich auf die sogenannte Option.


Nur wenige „Optanten“. Es begann eine Propagandaschlacht auf beiden Seiten. Am Ende votierten 86 Prozent dafür auszuwandern – ein Drittel von ihnen setzte es tatsächlich in die Tat um. Noch weniger, nämlich 20.000, kehrten nach dem Krieg in die Heimat zurück. Zum Teil wurden sie als Verräter beschimpft. Gleichzeitig wurden Italiener, die während der Umsiedelung nach Norditalien geholt wurden, im Land lang nicht akzeptiert. Die Wunde der Geschichte verheilt nur langsam. Die Narben sind auch heute in der politischen Debatte zu spüren.

Die Frau, die in Berlin-Charlottenburg lebte, erhielt 1947 die italienische Staatsbürgerschaft zurück. Sie heiratete, bei vielen damals verpönt, einen Italiener. Die Frage nach der Identität, nach der Sprache, ist in Südtirol eben keine einfache. Selbst zwei Generationen später wird ihre Enkelin darauf angesprochen. Egal, ob Richtung Süden in Italien, oder im Norden in Österreich.

Südtiroler Landtagswahl

Heute, Sonntag, wählt Südtirol einen neuen Landtag. 35 Sitze sind zu vergeben – dafür bewerben sich 420 Kandidaten auf 14 Listen. Alle Sprachgruppen (also die deutsche, italienische und ladinische) müssen im Landesparlament vertreten sein. Außerdem gilt eine Geschlechterquote von 33 Prozent auf jeder Liste. Die Wahllokale haben bis 21 Uhr geöffnet, das Ergebnis wird also erst in der Nacht auf Montag feststehen.

Wahlberechtigt sind insgesamt 424.184 Personen. Neben einem Mindestalter von 18 Jahren müssen sie aktuell einen Wohnsitz in der Provinz Bozen haben und seit vier Jahren in der Region Trentino-Südtirol ansässig sein.

Die Südtiroler Volkspartei (SVP) ist seit Jahrzehnten die stärkste Kraft, verlor aber 2013 mit 45,7 Prozent die absolute Mehrheit. Auf Platz zwei folgten die Freiheitlichen (17,9 Prozent), dann die Grünen (8,7 Prozent), die Süd-Tiroler Freiheit (7,2 Prozent) sowie die italienischen Sozialdemokraten vom Partito Democratico (6,7 Prozent).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2018)

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