CDU und SPD haben in Hessen in trauter Eintracht wichtige Stimmen verloren. Höchste Zeit also für einen Neustart. Doch der sonntägliche Urnengang verrät noch mehr über das politische Deutschland.
In trauter Eintracht verloren die Berliner Koalitionsparteien CDU und SPD auch in Hessen je rund zehn Prozent - spiegelbildlich zu ihren bayerischen Schwesterparteien. Der steile Abwärtstrend hält auch in den Umfragen auf Bundesebene an, wo die einstigen 40-Prozent-Volksparteien gerade noch zusammen auf 40 Prozent kommen. Offensichtlich wurde das Defizit der CDU bei jungen und urbanen Wählern, die zu einem Gutteil grün gewählt haben. Das große Glück im Unglück für Union und SPD besteht darin, dass bis Ende Mai (bis zur Europa-Wahl) keine Urnengänge mehr anstehen. Umfragen unter den Wähler zeigen, dass das Ergebnis in Hessen ein Denkzettel für Berlin sein sollte.
Zeit genug, dass sich die Koalition in Berlin konsolidiert und sich - wie oft beschworen - auf Sacharbeit konzentriert. Es wäre auch höchste Zeit für einen Neustart. Solange die SPD die Nerven bewahrt, geht die ungeliebte große Koalition mit schweren Blessuren ins kommende Jahr. Über kurz (CSU) oder lang (CDU) werden sich die Unionsparteien personell erneuern. Doch das alleine wird nicht reichen, um nachhaltig wieder Erfolge zu feiern. Den Schleudersitz der SPD-Vorsitzenden macht Andrea Nahles einstweilen niemand streitig. Gefährlicher wird in der Partei die Debatte, ob man weiterhin in der Großen Koalition regieren soll.
Auch für die übrigen Parteien gilt es, aus dem Urnengang ihre Schlüsse zu ziehen. Etwa:
1) Die Grünen entwickeln sich zur Mittelpartei - im Westen
Umgekehrt dauert der Höhenflug der Grünen an. Zumindest im Westen Deutschlands zeichnen sich mittelfristig drei Mittelparteien ab. Die Grünen saugen von Union und SPD gleichermaßen Stimmen ab. Neben München war das am Sonntag auch in Hessen zu beobachten. Das Führungsduo Habeck/Baerbock verkörpert im Vergleich zum ausgelaugten Spitzenpersonal der "GroKo" Schwung, Energie und frische Ideen. Die Partei verzichtet auf Flügelkämpfe, das ist auch Teil ihres Erfolges.
In Ostdeutschland haben die Grünen indessen großen Aufholbedarf. Ob Co-Vorsitzende Annalena Baerbock aus Brandenburg die Öko-Partei, die als Referenz an den Osten den Namen Bündnis 90 in ihrem offiziellen Parteinamen trägt, zum Aufschwung führt, ist eher zweifelhaft.
2) Die AfD etabliert sich als politische Kraft
Der große Siegeszug der AfD steht womöglich erst im nächsten Herbst in Ostdeutschland bevor, bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen, wo sie zum Teil als stärkste Kraft hervorgehen kann. Im Westen wachsen ihre Bäume zwar nicht in den Himmel, doch haben sich die Rechtspopulisten mittlerweile in allen deutschen Länderparlamenten etabliert.
Solange das Flüchtlingsthema Konjunktur hat, ist die AfD eine Konstante in der deutschen Politlandschaft - im Osten stärker und radikaler, im Westen schwächer und moderater. Der Richtungsstreit wird der AfD jedenfalls erhalten bleiben. Für viele AfD-Protestwähler könnte ein Abgang Angela Merkels die Union wieder attraktiv machen.
3) Experimente zahlen sich manchmal eben doch aus
Vor fünf Jahren wagte Hessens Ministerpräsident ein Experiment: Er ging eine Koalition mit den Grünen ein. In den ersten zwei Jahren rechneten viele in dem Bundesland, dass das Bündnis platze. Aber CDU und Grüne taten etwas, das man im Bund zuletzt nicht beobachten konnte: Sie gönnten sich Erfolge. Sie ließen den anderen ein Stück weit gewähren. Konflikte wurden nicht allzu öffentlich ausgetragen. Und siehe da: Es funktionierte. Das Bündnis verteidigt hauchdünn die Mehrheit im Landtag. Doch das liegt an den Streitereien im Bund.
Manchmal zahlen sich Experimente und Mut in der Politik eben doch aus. Bouffier muss nun ohnehin eine weitere Premiere eingehen: Er bemüht sich nun um eine Dreierkoalition mit der FDP. In Deutschland werden die Farbenspiele auf Dauer ohnehin bunter werden.
Vorläufiges Endergebnis
Trotz großer Verluste wurde die CDU am Sonntag mit 27,0 Prozent der Stimmen stärkste Kraft in Hessen. Die SPD stürzte auf 19,8 Prozent ab und liegt damit auf Augenhöhe mit den Grünen, die sich auf ebenfalls 19,8 Prozent steigerten. Die AfD zog mit 13,1 Prozent erstmals in den hessischen Landtag ein und ist damit in allen 16 Landesparlamenten vertreten. Die FDP kam auf 7,5 Prozent, die Linke auf 6,3 Prozent.
Der hessische Landtag wird künftig wegen zahlreicher Überhang- und Ausgleichsmandate 137 Abgeordnete haben, bisher waren es 110. Die CDU hat künftig 40 Sitze, der bisherige Koalitionspartner Grüne und die SPD jeweils 29 Sitze. Die AfD erreicht 19 Sitze, die FDP 11, die Linke 9. Damit kämen CDU und Grüne gerade auf die notwendige Mehrheit, um ihr Bündnis fortzusetzen.