Ost-West-Gefälle beim Selbstwert

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In neuen Mitgliedsstaaten wird die Bedeutung der eigenen nationalen Kultur höher eingeschätzt als in der „alten“ EU. Auch bei religiöser Toleranz gibt es Differenzen.

Wien. Wer sich von Berufs wegen mit der menschlichen Psyche befasst, weiß, dass sich persönliche Unsicherheiten oft hinter einem offensiv zur Schau gestellten Selbstwertgefühl verbergen. Dasselbe Muster scheint sich auch bei nationalen Befindlichkeiten zu wiederholen – diesen Schluss legt zumindest eine Studie des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research nahe, die zu Wochenbeginn veröffentlicht wurde. Die Studienautoren haben dabei im Zeitraum 2015 bis 2017 in jedem EU-Mitgliedsstaat sowie in benachbarten osteuropäischen Ländern mindestens 1400 Personen zu ihren Einstellungen befragt. Die Ergebnisse der Untersuchung offenbaren ein ausgeprägtes Ost-West-Gefälle, das entlang der alten Demarkationslinie des Eisernen Vorhangs verläuft.

Griechenland als Ausreißer

Vereinfacht ausgedrückt lässt sich der Unterschied zwischen den „alten“ EU-Mitgliedern im Westen und Norden und den „neuen“ Mitgliedsstaaten im Osten und Südosten folgendermaßen beschreiben: Während Nord- und Westeuropäer den Wert der eigenen nationalen Kultur relativieren und gegenüber Fremdeinflüssen relativ offen sind, verhält es sich in Mittelosteuropa genau umgekehrt. Während beispielsweise lediglich 20 Prozent der befragten Spanier, 31 Prozent der Niederländer und 36 Prozent der Franzosen davon überzeugt waren, die Kultur ihrer Heimat sei allen anderen Kulturen überlegen, waren es in Polen und Tschechien je 55 Prozent, in Rumänien 66 Prozent und in Bulgarien gar 69 Prozent. Deutschland und Österreich rangierten mit 45 bzw. 47 Prozent Zustimmung in der Mitte der Skala, während das als antike Wiege der europäischen Kultur gerühmte Griechenland mit 89 Prozent der Spitzenreiter beim kulturellen Selbstwert war.

Diese Ergebnisse haben allerdings eine Kehrseite: Dort, wo der Wert der eigenen Kultur hochgehalten wird, ist die Toleranz gegenüber Moslems und Juden geringer. Während sich in den Niederlanden 88 Prozent der Befragten dazu bereit erklärten, einen Moslem als Familienmitglied zu akzeptieren, waren es in Tschechien gerade einmal zwölf Prozent (siehe Grafik). In der „alten“ EU waren die Italiener mit 43 Prozent Zustimmung am wenigsten tolerant. In Österreich und Deutschland lag die Zustimmungsrate bei 55 bzw. 54 Prozent, in Frankreich bei 66 Prozent. Ein ähnliches Gefälle zwischen Ost- und Westeuropa gab es in der Frage, ob die nationale Zugehörigkeit an die familiäre Herkunft gekoppelt ist.

Auch was die Zustimmung zur Ehe für gleichgeschlechtliche Partner anbelangt, sind Unterschiede sichtbar. Die niedrigsten Zustimmungsraten zur gleichgeschlechtlichen Ehe gab es demnach im Baltikum sowie in Rumänien und Bulgarien, während in Schweden, Dänemark, den Niederlanden und Belgien mindestens vier von fünf Befragten darin kein Problem sahen.

Ein möglicher Erklärungsansatz für die Diskrepanzen ist die Religiosität. In Ländern, in denen ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Befragten an Gott glaubt, war die Toleranz gegenüber fremdkulturellen Einflüssen tendenziell geringer. Eindeutig ist dieser Zusammenhang allerdings nicht – so rangierten beispielsweise Tschechien, Estland und Lettland EU-weit unter den Schlusslichtern, was die Bedeutung der Religion für nationale Kultur anbelangte.

Doch selbst in Polen, wo der Katholizismus integraler Bestandteil des nationalen Selbstgefühls ist, ist das Verhältnis zwischen Glauben und Alltag komplexer, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Gemäß der Pew-Umfrage stimmen sieben von zehn Polen der These zu, wonach sich die Kirche nicht in politische Angelegenheiten einmischen sollte. In Österreich waren lediglich 56 Prozent der Befragten dieser Ansicht. Während in Polen 25 Prozent der Befragten eine an religiösen Kriterien und Werten orientierte Regierungspolitik befürworteten, waren es in Österreich 43 Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2018)

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