Virtuelle Zeitreisen

Die Digitalisierung von Archiven soll virtuelle Zeitreisen ermöglichen. Das werde unser Verhältnis zur Gegenwart verändern, meinen die Initiatoren eines riesigen EU-Projekts.

Wir kennen nur einen Bruchteil des historischen Wissens: Die meisten Kenntnisse unserer Vorfahren stecken in Abermillionen beschriebenen und bedruckten Seiten, die in Archiven liegen, ohne dass sie in jüngster Zeit jemals irgendwer zu Gesicht bekommen hätte.

Das soll sich ändern: In einer Reihe von Projekten wird derzeit das kulturelle Erbe systematisch digital erfasst, sodass es mit modernen Technologien aufbereitet, ausgewertet und genutzt werden kann. Eine der Visionen ist es, mit Methoden der Künstlichen Intelligenz eine Art Facebook oder Google der Vergangenheit aufzubauen – mit der Möglichkeit, quasi auf Knopfdruck spezifische Fragen zur Geschichte beantwortet zu bekommen.

„Es geht darum, die große Kluft zu überwinden, die unsere gegenwärtige Ära der globalisierten Information schon heute von jener der vorangehenden, vor dem Computerzeitalter liegenden Welten trennt“, sagt Thomas Aigner, Direktor des Diözesanarchivs St. Pölten und Präsident des Internationalen Zentrums für Archivforschung (Icarus), das 2008 in Wien gegründet wurde und am Freitag an der Uni Wien seinen 10. Geburtstag feiert.

Dieses Archivnetzwerk ist ein gemeinnütziger Verein von mehr als 180 Archiven und wissenschaftlichen Instituten aus 34 europäischen Ländern, Kanada, den USA und dem Irak. Icarus unterstützt die Mitglieder bei der Digitalisierung und Erschließung ihrer Bestände, gemeinsam werden u. a. Standards entwickelt und eine digitale Infrastruktur aufgebaut. So wurden bisher 16 EU-Projekte durchgeführt und 13 Mio. Euro an Forschungsmitteln eingeworben; 640.000 Urkunden und mehr als 26 Mio. Kirchenbuchseiten konnten bisher digitalisiert werden – in Portalen wie www.matricula-online.eu oder www.monasterium.net ist all das frei für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich.

Icarus ist auch Teil einer Allianz aus 250 Institutionen aus 32 Ländern, die gemeinsam an der Etablierung des EU-Flagship-Projekts Time Machine arbeiten. Wenn die Pläne realisiert werden, könnte in den nächsten zehn Jahren rund eine Mrd. Euro an Forschungsmitteln für die Digitalisierung des Archivwesens lukriert werden. Der Name des Projekts verrät, wie ambitioniert die Pläne sich: Per „big data of the past“ sollen, so die Initiatoren des Projekts, virtuelle Zeitreisen möglich werden – ein alter Traum der Menschheit. „Wir werden alle Zeitreisende und gewinnen so ein anderes Verhältnis zu unserer Gegenwart“, heißt es.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2018)

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