Lazarus in Italiens Wirtschaftskrise

Titelheld Lazzaro (Adriano Tardiolo, hinten) mit dem Sohn seiner Ausbeuterin (Luca Chikovani).
Titelheld Lazzaro (Adriano Tardiolo, hinten) mit dem Sohn seiner Ausbeuterin (Luca Chikovani).(c) Viennale
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Ein Märchendrama, das exemplarisch für eine Erneuerungsbewegung im Italokino steht: „Glücklich wie Lazzaro“ hat die Viennale eröffnet und läuft nun in den Kinos.

Der Orgelspieler hämmert in die Tasten, doch die Musik gehorcht ihm nicht. Sie entzieht sich seiner Kontrolle, gleitet aus dem Kirchenraum und folgt den Außenseitern, denen eine Ordensschwester soeben den Zutritt zur Messe verweigert hat: Schließlich scheint der bunte Haufen aus der Zeit gefallener Vagabunden wärmende Klänge dringend zu benötigen. Leider spitzt nur einer unter ihnen seine Ohren ob des Miniwunders: ein Jüngling mit schwarzem Wuschelkopf und dem sanften Antlitz eines Heiligen. In ihm, so wirkt es, brennt das Licht der Hoffnung noch – anderswo ist es längst am Verlöschen.

Ein magischer Moment, wie man ihn heutzutage allenfalls aus Kinderfilmen kennt. In einem Drama über die Unbilden der italienischen Wirtschaftskrise rechnet man nicht unbedingt damit. Doch „Glücklich wie Lazzaro“ von der in Fiesole als Tochter eines Deutschen und einer Italienerin geborenen Regisseurin Alice Rohrwacher, beim Filmfest in Cannes mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet, ist kein gewöhnlicher Film: Er bildet die Speerspitze einer ganzen Reihe von Leinwandwerken, die derzeit das Italokino neu erfinden. Meist stammen sie von jungen Laufbildkünstlern, die sich nicht scheuen, Gegenwartsprobleme ihres Landes zum Thema zu machen – aber gelangweilt sind von ausgeleierten Erzählformen.

Während Ästheten wie Paolo Sorrentino unbeirrbar am Altar Fellinis beten, hängen Stürmer und Dränger wie Rohrwacher, Laura Bispuri und Pietro Marcello ganz anderen filmhistorischen Traditionen nach: Ihre Vorbilder heißen Ermanno Olmi oder Paolo und Vittorio Taviani. Statt Sozialdramen und Politthriller zu drechseln, versuchen die Erben dieser behutsamen Chronisten italienischen Landlebens, Genregrenzen aufzuheben, experimentieren mit Märchenelementen und poetischem Realismus. Das geht nicht immer auf – aber in Rohrwachers Fall ist der Versuch geglückt.

Ausbeutung im Bergdorf

„Lazzaro felice“ beginnt in einem Bergdorf, das vom Lauf der Geschichte vergessen wurde – anfangs fragt man sich, in welchem Jahr der Film überhaupt spielt. Arme Bauern schuften hier für eine gestrenge Marquise, die ihre „Schützlinge“ über die Abschaffung der Leibeigenschaft im Dunkeln hält. (Als Inspiration diente ein realer Fall aus den 1980er-Jahren.) Sie nehmen ihr Los mit Humor, doch die Tristesse der Verhältnisse schmerzt: Wenn ein Mann einer Frau mit Dudelsack und Gesang einen Antrag macht, muss erst einmal die einzige Glühbirne des Hauses ins richtige Zimmer.

Ein Gesicht wie ein Heiliger

Irgendwann fliegt der Schwindel auf, und die Ausgebeuteten werden – Achtung, Spoiler – von frappierten Beamten in die aufgeklärten Sphären der modernen Welt bugsiert. Der Clou: Dort ergeht es ihnen kaum besser. Denn auf dem freien Arbeitsmarkt sind sie in etwa so viel wert wie der sprichwörtliche Schnee von gestern. Nur der Titelheld mit der Heiligenvisage erinnert daran, dass es anders sein könnte: Alterslos und grundgütig bis zur Blauäugigkeit steht er als Symbolfigur für das Gute im Menschen.

Laiendarsteller Adriano Tardiolo ist ein richtiger Besetzungscoup: Allein schon seine natürliche Ausstrahlung spendet Trost. Als reine Seele an der Seite der gewieften Antonia erkundet er die tückische Gegenwart einer mustergültigen Großstadt. Verkörpert wird seine Lotsin von Alba Rohrwacher, der älteren Schwester der Regisseurin; sie zählt zu Italiens spannendsten Schauspieltalenten, bald ist sie auch in Markus Schleinzers heimischem Historienfilm „Angelo“ zu sehen.

Lazzaros Abenteuer verlaufen tragikomisch: Obwohl urbane Landschaften, die Kamerafrau Hélène Louvart in schonungslos naturalistische 16-mm-Bilder bannt, drückende Schwermut verströmen, brechen sich die Possen des durchweg mit Charakterköpfen besetzten Figurenensembles immer wieder erquicklich Bahn. Die Grundstimmung des abwechslungsreichen, leider ein bisschen zu lang geratenen Films lässt allerdings keinen Zweifel daran, wie Rohrwacher zu zeitgenössischen italienischen Verhältnissen steht: Die immerwährende Auferstehung ihres an sich unverwüstlichen Lazarus-Protagonisten kann sie unter herrschenden Bedingungen nicht garantieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2018)

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