Ukraine: „Der Wert des Lebens hier ist gering“

Mahnwache und Protest vor dem Innenministerium in Kiew: Die Aktivistin Kateryna Gandsjuk starb nach einem Säureattentat.
Mahnwache und Protest vor dem Innenministerium in Kiew: Die Aktivistin Kateryna Gandsjuk starb nach einem Säureattentat. (c) APA/AFP/GENYA SAVILOV
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Nach dem gewaltsamen Tod der Antikorruptionsaktivistin Kateryna Gandsjuk fordern Bürger politische Konsequenzen.

Kiew/Moskau. „Wer hat Kati Gandsjuk umgebracht?“ Diese Frage stand nicht nur auf den Transparenten der Demonstranten, die sich vor wenigen Tagen zu einer Mahnwache vor dem Kiewer Innenministerium versammelt hatten, diese Frage wird in der ganzen Ukraine immer lauter gestellt.

Nach dem Tod der Antikorruptionsaktivistin Kateryna Gandsjuk infolge eines Säureanschlags wird der Ruf nach Konsequenzen laut. Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko reichte gestern sein Rücktrittsgesuch bei Präsident Petro Poroschenko ein. Ob sein Förderer ihn tatsächlich entlassen wird oder Luzenkos Einlenken wegen der Kritik an den Ermittlungen ein symbolischer Schritt bleibt, war gestern unklar. Der Fall Gandsjuk ist ein schreckliches Verbrechen – und für die im Wahlkampf befindliche ukrainische Regierung eine mehr als unangenehme Causa.

Blutgerinnsel führte zum Tod

Gandsjuk war am vergangenen Sonntag ihren Verletzungen nach einer Säureattacke erlegen. Die 33-Jährige aus der südukrainischen Stadt Cherson war am 31. Juli vor ihrem Wohnhaus mit Schwefelsäure übergossen worden. Rund 30 Prozent ihrer Haut wurden verätzt. In mehr als zehn Operationen versuchten die Ärzte eines Kiewer Krankenhauses, sie zu retten. Unmittelbare Ursache für ihren Tod war ein Blutgerinnsel.

In der Ukraine spricht man im Fall Gandsjuk nicht von Tod, sondern von Mord. Die 1985 geborene Frau war als Beraterin des Bürgermeisters tätig. Sie legte sich mit den örtlichen starken Männern aus Polizei und Business an. „Wenn du weiterkommen willst, musst du es gegen den Wind tun“, schrieb sie auf Facebook. In einem unlängst aufgenommenen Video, das sie mit vernarbtem Gesicht zeigt, sagt Gandsjuk: „Ich weiß, dass ich jetzt schlimm aussehe. Aber ich werde von ukrainischen Ärzten behandelt. Ich bin sicher, dass ich viel besser aussehe als die ukrainische Justiz. Denn diese wird von niemandem behandelt.“

Diese Kritik passte auch auf ihren Fall. Die Behörden qualifizierten die Säureattacke zunächst nur als Körperverletzung. Als sich Protest regte, änderte man die Anklage auf Mordversuch. Sechs Männer wurden zunächst festgenommen; einer wurde entlassen, drei befinden sich in Hausarrest, zwei sind in Untersuchungshaft.

Als Drahtzieher gilt Sergej Torbin, ein ehemaliger Polizist, der im Krieg im Donbass für den bewaffneten Arm der ultranationalistischen Partei „Rechter Sektor“ gekämpft hat. Laut Behörden habe er die anderen vier Männer zu dem Verbrechen angestiftet. Er habe seinen Mittätern Gandsjuk als prorussische, korrumpierte Beamtin beschrieben. Den Beteiligten versprach er ein Honorar von 500 Dollar, einen Betrag, den die Männer nach der Durchführung des Verbrechens auch erhielten.

Nicht ausgeschlossen ist, dass sie auf Befehl eines Unbekannten handelten. Gandsjuk selbst hat vermutlich einen Auftraggeber auf höherer Ebene vermutet: Sie verweigerte die Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden, die mit der Aufklärung der Attacke beauftragt waren.

Der Fall Gandsjuk ist kein Einzelfall. Er zählt zu einer Reihe von Überfällen auf Zivilgesellschaftsaktivisten, Bürgerreporter und Journalisten. Seit 2017 sind laut informellen Angaben landesweit mehr als 50 tätliche Angriffe registriert worden. Häufig finden diese in der Provinz statt. Diese Fälle haben oft weniger Resonanz als Verbrechen in der Hauptstadt – so wie der Mord an dem Journalisten Pawlo Scheremet durch eine Autobombe im Jahr 2016.

Klima der Straflosigkeit

Zivilgesellschaftsaktivisten sprechen von einem Klima der Straflosigkeit. „Der Wert des menschlichen Lebens ist erschreckend gering in der Ukraine“, äußerte sich Alexandra Ustinowa vom Kiewer Anti-Corruption Action Centre. „Die Sicherheitsbehörden sind korrupt. Es ist so leicht, jemanden umzubringen und niemals strafrechtliche Verantwortung dafür fürchten zu müssen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2018)

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