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Befreit/Besetzt

(c) Hertha Hurnaus
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Österreich sah sich lange als erste Opfer des Nationalsozialismus. Die Befreiung 1945 wurde von einer "Befreiung" 1955 überlagert.

Als am 27. April 1945 die Zweite Republik ausgerufen wurde, stand der überwiegende Teil des heutigen Österreich noch unter Kontrolle des NS-Regimes. In weiten Teilen des Landes tobte noch der Krieg. Befreiung, das hatte 1945 für die Menschen sehr unterschiedliche Bedeutungen. KZ-InsassInnen, die noch bis zum Schluss mit ihrer Ermordung rechnen mussten, erlebten die Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai anders als jene Menschen, die nicht vom Regime verfolgt worden waren. Für viele bedeutete 1945 vor allem eine durchwegs persönlich erlebte Niederlage und den Weg in eine ungewisse Zukunft. Dennoch war die Erleichterung über das Ende der NS-Terrorherrschaft und die Befreiung vom Alpdruck des Krieges eine große. Ausdruck fand diese Gefühlslage in einer ersten, antifaschistisch geprägten Phase, in der sowohl der Befreiung durch alliierte Truppen wie auch dem Widerstand gegen das NS-Regime hohe Bedeutung zugemessen wurde.

Doch Haltungen und Blickwinkel wandelten sich, auch vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges, rasch in Antikommunismus. Befreiung war bald ein Begriff, der nur mehr in kommunistischen Kreisen ohne Anführungszeichen Verwendung fand.

Die in Österreich verbliebenen Alliierten, vor allem aber die sowjetischen Truppen wurden von Befreiern zu Besatzern. Hinter diesem Wandel stand auch die Schaffung eines österreichischen Selbstbildes, das nach außen die absehbare staatliche Eigenständigkeit und nach innen die gesellschaftliche Kohärenz wiederherstellen sollte. Das offizielle Österreich berief sich dabei auf die Moskauer Deklaration aus dem Jahr 1943 und bezog daraus das Bild vom ersten – und vor allem: unschuldigen – Opfer des Nationalsozialismus.

Der Opfermythos, die Lebenslüge der Zweiten Republik, war geschaffen. Er kreierte einen gemeinsamen Nenner für alle Bereiche der Gesellschaft und ermöglichte die Integration zurückkehrender Kriegsgefangener, der sogenannten »Heimkehrer«, und ab 1948 auch der ehemaligen NationalsozialistInnen in die österreichische Gesellschaft.

»Befreiung« wurde vor diesem Hintergrund zu einem Schlagwort, das bald nicht mehr 1945 meinte, sondern den Wunsch nach dem baldigen Abzug Westalliierter und sowjetischer Truppen zum Ausdruck brachte. Im Rot-Weiß-Rot-Buch, von der Bundesregierung 1946 herausgegeben, wurden diese Positionen und Sichtweisen niedergeschrieben. »Befreiung« wurde an die Wahrnehmung einer »Besatzung« gekettet, unter starker Betonung der Ungerechtigkeit von Zonengrenzen und des wirtschaftlichen Raubbaus im sowjetischen Besatzungsgebiet.

Im Jahr 1952 gab die österreichische Bundesregierung die Produktion des Films »1. April 2000« in Auftrag, der die Opfersicht Österreichs befördern sollte. Österreich musste sich darin im Jahr 2000 vor einem Weltgericht verteidigen, um seine Freiheit erlangen zu können. Dabei wurde deutlich: Befreiung bedeutete nicht nur den Abzug der Besatzungstruppen und die Wiedererlangung staatlicher Souveränität, sondern letztlich auch den Freispruch von der (Mit-)Schuld am Nationalsozialismus.

Der Film fungierte als Begleitung zu den parallelen Staatsvertragsverhandlungen, die an der Frage der Mitschuld Österreichs ins Stocken geraten waren. In der allerletzten Verhandlungsrunde im Jahr 1955 gelang es Außenminister Leopold Figl, der selbst Opfer des NS-Terrors geworden war, eine gänzliche Streichung der Mitverantwortungsklausel zu erreichen. Am 15. Mai trat er schließlich auf den Balkon des Schlosses Belvedere und präsentierte der Öffentlichkeit den fertigen Staatsvertrag. Der Rundfunk legte über diesen Auftritt die Worte »Österreich ist frei« und schuf so eine Ikone der österreichischen Befreiung, die als Zäsur im Bewusstsein der ÖsterreicherInnen eingeschrieben wurde. Unzählige Mythen wurden um diesen Moment gestrickt, um ihm Nachhaltigkeit zu verleihen – wie etwa der Mythos von der Trinkfestigkeit der österreichischen Delegation, durch die die Sowjetunion zum Einlenken bewegt worden sei.

Der 15. Mai 1955 wurde zu einem Zielpunkt von Sehnsüchten, die jedoch nicht sofort erfüllt wurden, da die Besatzungstruppen nicht augenblicklich abzogen. So musste ein weiteres Element gefunden werden, das sich in das kollektive Gedächtnis einer Befreiung einschreiben konnte. Gefunden wurde schließlich der 26. Oktober 1955. Zunächst als »Tag der Fahne«, ab 1965 als Nationalfeiertag war dieser eigentlich der Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes gewidmet. In der öffentlichen Wahrnehmung verband er sich jedoch mit dem Abzug des vermeintlich letzten Besatzungssoldaten. Das Jahr 1955 wurde so zur idealen Positiverzählung der Zweiten Republik, die vom Dunkel ins Licht gefunden hatte – eine Erzählung, die in vielerlei Hinsicht noch heute präsent ist.

Dr. Georg Hoffmann ist seit April 2017 Kurator am Haus der Geschichte Österreich und ist hier in der Eröffnungsausstellung “Aufbruch ins Ungewisse - Österreich seit 1918“ verantwortlich für die Themen “Wunder Wirtschaft?“, “Diktatur, NS-Terror, Erinnerung“ und “Grenzen verändern!?“.


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