Die Welt auf Kodak: Warum ich noch immer Fotos in Alben klebe

Der Autor auf der letzten verbliebenen Aufnahme seiner Kindertage. August 1972.
Der Autor auf der letzten verbliebenen Aufnahme seiner Kindertage. August 1972.Archiv Holzer
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Einmal im Jahr, meist in den Wintermonaten, setze ich mich mehrere Tage hintereinander an den Küchentisch. Vor mir liegen Hunderte Fotoabzüge, digital fotografiert, aber als Papierbilder entwickelt. Warum ich noch immer Fotos in Alben klebe: Bekenntnisse eines Fotohistorikers.

Das Unglück kam so: Zusammen mit meiner Schwester habe ich unsere alte Wohnung ausgemistet. Alles sollte raus: alte Holzschränke ebenso wie die in unseren Augen unsägliche Holztäfelung der Stube, die alten, ausgetretenen Teppiche, die Eckbank in der Küche, alles, alles. Wir wollten ganz neu anfangen. Das Interieur, an dem der Geschmack unserer Eltern wie Kaugummi klebte, landete auf dem Müll. Wir wollten eine leere Wohnung mit einfachen, neu geschliffenen Holzböden, simplen Betten, einer nüchternen Kücheneinrichtung. Dazu war ein Kampf gegen die Vergangenheit nötig. Die rasante und wohl auch ein wenig rabiate Entrümpelungsaktion fand während einiger weniger Wochen statt. Im Vorraum der Wohnung stapelte sich der Mist: Kisten voller Abfall, dazwischen alte Stühle, Verputzkübel, Farbtöpfe, Müllsäcke mit unnützem Kleinzeug.

Und dann passierte es, mitten im Furor unserer Abrechnung mit der Vergangenheit. Meine Schwester packte eine Schachtel, in der sie Ramsch vermutete, zum Müll und entsorgte die Fuhre. In der Schachtel befanden sich, in einem ungeordneten Haufen, all meine Kindheits- und Jugendfotos, von der Geburt bis etwa zur Volljährigkeit. Mit einem Schlag waren sie weg, unwiederbringlich verloren. Das war vor 20 Jahren.

Ich erinnere mich noch genau an meine Reaktion damals. Nicht Zorn, nicht Vorwurf, nicht Trauer, nein, ich reagierte ganz anders: Ich begann zu lachen. Obwohl mir ganz und gar nicht zum Lachen zumute war. Worüber lachte ich? Über das unglaubliche Missgeschick, wohl auch über unsere etwas verrückte Wegwerforgie, der so vieles zum Opfer fiel – letztlich auch meine Fotoschachtel. Habe ich die Bilder vermisst? Damals nicht. Ich habe die alten Bilder ohnehin nie angesehen, Szenen, die mich gemeinsam mit meinen Schwestern als Kind zeigen, im Garten, vor dem Haus, mit der Tante, die Ausflüge in die Berge, die Bilder vom Skifahren und vom Rodeln. Dann die zahlenmäßig immer weniger werdenden Jugendbilder. Auf einem der Fotos sitze ich auf meinem roten Mofa.

Mir fällt rückblickend auf: Der Verlust meiner Bilder ereignete sich just in dem Augenblick, als die analoge Fotografie ihrem Ende zu ging. Um das Jahr 2000 begann das Fotoalbum anachronistisch zu werden. Wenn heute noch „Alben“ entstehen, dann vorwiegend in digitalen Kollektionen am Computer oder als virtuelle Bilderserien auf Facebook, Instagram und anderen Plattformen. Für besondere Anlässe gönnt man sich vielleicht noch ein buchförmiges, haptisch anmutendes Album. Man lädt etwa die schönsten Hochzeits-, Urlaubs- oder Familienbilder auf einen Server und bekommt in wenigen Tagen ein mustergültig layoutiertes, digital erstelltes Fotobuch nach Hause geliefert. Wer klebt heute noch Bilder in Fotoalben? Kaum jemand. Ich aber schon!

Vielleicht hat dieser Hang zur nachträglichen Herstellung einer geschlossenen fotografischen Ordnung, die zwischen zwei fassbare Kartondeckel gepresst wird, mit dem Trauma meines eigenen Bildverlusts zu tun. Vielleicht hole ich im Albummachen etwas nach, das für immer verloren ist.

Einmal im Jahr, meist in den dunkleren und kalten Wintermonaten, setze ich mich mehrere Tage hintereinander an den Küchentisch. Vor mir liegen Hunderte Fotoabzüge, zwar digital fotografiert, aber sorgsam ausgesucht und dann als Papierbilder entwickelt. Ich forme kleine Stapelchen, ordne die Abzüge nach Fotoanlässen und Ereignissen (ich merke, dass ich die digitalen Ordnungskriterien etwa von iPhoto im Kopf habe), aber auch nach Themen. Oft lege ich Bilder zusammen, weil eine Farbe von einem aufs andere Bild überspringt, weil sich eine Körperhaltung verdoppelt oder ein merkwürdiges Detail des einen Bildes im nächsten wieder auftaucht: ein Hund, ein Hut, ein Fahrrad. Dann wird geschnitten, geklebt, beschriftet. Mir geht es nicht um die eiserne Chronologie, das Aneinanderreihen von bildlichen Fakten entlang einer Zeitleiste. Daten tauchen in meinem Album eher sporadisch auf, wohl aber klebe ich auf den Umschlag der Alben Jahresangaben auf, meist ausgeschnittene Ziffern aus einer Zeitung.
Immer wieder gerät der Zeitfluss ins Stocken, ich überspringe oft Monate und gebe dann einem Ereignis sehr viel Raum. Wenn auf diese Weise Bilder in eine neue Nachbarschaft geraten, entsteht eine Geschichte. Mit jedem Jahr wird das digital fotografierte, aber ins Analoge rückverwandelte Fotoarchiv größer. Wenn noch einmal etwas verloren geht, wird es die flüchtige Bildersammlung in meinem Computer sein, aber nicht die stetig wachsende Reihe von Fotoalben, die im Regal steht.

Seit vielen Jahren trage ich im Adressbuch – auch das führe ich noch analog – ein Foto mit mir herum. Es ist ein Bild, das auf wunderbare Weise der einstigen Entrümpelungsaktion entgangen ist. Irgendwann ist es durch Zufall aus einem Kuvert gerutscht. Nun habe ich wieder ein Kinderbild. Ein einziges. Aufgenommen wurde es im August 1972, ein rosaroter, schon leicht vergilbter Kodak-Stempel prangt auf der Rückseite. Und auf der Bildseite: ich in einer Lederhose, die ich in Kindertagen tagein, tagaus getragen habe, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ein Lächeln im Gesicht. Und dann wäre da noch die für meine Kindheit typische Rundrasur, die mir meine Mutter regelmäßig verpasst hat.

Acht Jahre war ich damals alt, fast genau so alt wie mein Sohn heute. Neulich habe ich ihm das Bild gezeigt, mit ein wenig Pathos in der Stimme, vielleicht wollte ich Parallelen in unseren Gesichtern erkennen, wer weiß. Sonderlich interessiert hat ihn das schon etwas verblasste fotografische Souvenir nicht. Er weiß ja auch nichts von der Einzigartigkeit dieses Bildes. Aufgenommen hat das Foto seinerzeit mein Vater, wohl bei einem Familienausflug, an den ich mich allerdings nicht mehr erinnern kann. Bald danach hat er die Kamera weggelegt und nie wieder fotografiert.
Um die Jahrtausendwende, etwa zu dem Zeitpunkt, als ich meine Fotos verlor, ging nicht nur das Zeitalter der analogen Fotografie langsam, aber unaufhaltsam zu Ende. Auch das klassische Familienalbum, das in Bildern Einheit und Zusammenhalt stiftete, das die Familiengeschichte in eine Ordnung brachte, begann zu verschwinden. Den Todesstoß hat ihm aber nicht nur die Flüchtigkeit der digitalen Fotografie versetzt. Sein Niedergang hatte schon früher eingesetzt. Als in den 1950er-Jahren die Knipserfotografie für alle erschwinglich wurde, begann der Bilderberg der privaten Erinnerungsbilder unaufhaltsam zu wachsen. Aus dem ehemals überschaubaren Pool an Erinnerungsbildern wurden Bildermassen, die nur mehr mit viel Mühe gebändigt werden konnten.

Passionierte Familienfotografen suchten den rasch expandierenden Mengen durch verschiedene Strategien Herr zu werden. Anspruchsvollere Amateure füllten Diakasten über Diakasten, auch wenn sie wohl ahnten, dass die gerahmten Bildchen nach ihrem Abgang niemand mehr in den Projektor schieben würde. Ausgewählte Familienbilder wanderten in oft kunstvoll und sorgfältig aufgemachte Alben, die oft über Jahre und Jahrzehnte geführt wurden, oft aber auch abrupt abbrachen, etwa wenn eine Ehe auseinanderging, Kinder größer wurden oder schließlich aus dem Haus waren, Ortswechsel anstanden oder bloß eine gewisse Ermattung in der Handhabung der Bilderflut einsetzte.

Knipser wie mein Vater schoben die Bilder in billige Plastikmappen mit Klarsichthüllen, die meist nicht oder nur notdürftig beschriftet wurden. Bei Bedarf wurden diese Mäppchen hervorgeholt, auf dem Familientisch wurde anhand dieser Bilder über dieses oder jenes Ereignis gesprochen. Dann verschwanden sie wieder in einer Schublade oder in einer alten Schuhschachtel. Das fotografische Familienalbum, das im 19. Jahrhundert als gutbürgerliche Form der kollektiven Selbstvergewisserung entstanden war und im 20. Jahrhundert zum Gemeingut für alle wurde, wurde im Zeitalter der Massenfotografie allmählich obsolet.

In den 1980er- und 1990er-Jahren war das Familienalbum als kleinbürgerlicher Kitsch verschrien – sein Ende war nahe. 1981, ich war damals 17 Jahre alt, begann ich an den Wochenenden und in den Winterferien als Fotograf zu arbeiten. Im nahegelegenen Skipassbüro lichtete ich die Köpfe von Touristen ab, Passbilder für die Skipässe. Tausende, ja Zehntausende Porträts habe ich in den wenigen Jahren, die ich diese Tätigkeit ausübte, gemacht. Ausbildung hatte ich keine, und die brauchte ich auch nicht. Denn der klobige Polaroid-Kasten, den ich bediente, funktionierte denkbar einfach: Lichtpunkt auf den Mund des Porträtierten richten, abdrücken. Das war's. Nach ein paar Minuten holte ich die Kassetten aus der Maschine, zog den Streifen ab, und fertig war das Bild.

Heute, im Nachhinein, erscheint es mir fast so, also ob ich mit meiner damaligen Fotografierwut, die im Grunde nur ein einziges Bild in fast unendlicher Serie hervorbrachte, einen kleinen Beitrag zur Explosion des analogen Bilderberges kurz vor dem Ende geleistet hätte. 20 Jahre später war der Spuk vorbei. Die digitale Fotografie begann die analogen, handhabbaren, haptischen Bilder zu ersetzen. Und am Ende, am Wendepunkt dieser spektakulären Explosion der analogen Bilderwelt, implodierte auch für mich persönlich die Fotografie. Ein einziges Bild blieb mir, eines, das ich seither sorgsam hüte.

Es ist vielleicht ein Zufall: Aber genau in diesem Jahr 1999, als ich meine Bilder verlor, schrieb ich den ersten Aufsatz für die Fachzeitschrift „Fotogeschichte“. Zwei Jahre später, 2001, übernahm ich die Herausgeberschaft der Zeitschrift. Die Auseinandersetzung mit den Themen Fotografie und Geschichte, die mich damals schon seit Jahren beschäftigte, wurde zu meinem Hauptberuf. Am Wendepunkt hin zur digitalen Fotografie wurde ich zum Archäologen für ein Medium, das in der analogen Form dem Untergang geweiht war. Woche für Woche besuchte ich zu dieser Zeit Flohmärkte, trug alte, oft verblasste Bilder zusammen, die in dieser Form nie mehr entstehen würden. Ihre Zeit war abgelaufen. Ich fand es spannend, billige Alltagsbilder neu zu befragen und zu interpretieren.

Ich begann meine Recherchen mit ausgemusterten Bildpostkarten, später kam viel anderes dazu. Im Lauf der Jahre hat sich bei mir zu Hause ein neuer Bilderberg des 20. Jahrhunderts angehäuft. Es sind nicht meine eigenen Bilder, sondern fremde, die ihre persönlichen Geschichten meist schon abgestreift haben. Aber genau das ist das Faszinierende an der Fotografie: Wenn ich sie in die Hand nehme, beginnen sie Geschichten zu erzählen, neue, immer neue. Wenn ich recht überlege, ist meine Arbeit als Historiker der Fotografie vielleicht unbewusst ein Rückholen verlorener Bilder. Trauerarbeit im Gewand der Wissenschaft.
Das klingt ziemlich pathetisch. Ich kann es auch einfacher und positiv formulieren: Ich liebe Fotos. Ich mag diese kleinen unscheinbaren, alltäglichen und doch so machtvollen Rechtecke, weil sie imstande sind, einen Ausschnitt der Wirklichkeit festzuhalten. Und weil sie so rasch wieder verschwinden können. ■

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