Rechtspanorama am Juridicum

Maßnahmenvollzug: „Es sind tausende Beschwerden eingelangt“

Die Diskutierenden im Dachgeschoß des Wiener Juridicums: Gabriele Brinek, Markus Drechsler, „Presse“-Moderator Benedikt Kommenda, Wolfgang Gratz, Christian Manquet und Gabriele Wörgötter (v. l. n. r.).
Die Diskutierenden im Dachgeschoß des Wiener Juridicums: Gabriele Brinek, Markus Drechsler, „Presse“-Moderator Benedikt Kommenda, Wolfgang Gratz, Christian Manquet und Gabriele Wörgötter (v. l. n. r.).(c) Clemens Fabry
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Der Maßnahmenvollzug gilt als reformbedürftig. Insassen sind sich im Unklaren, wann sie hinauskommen, auch die Gutachten stehen in der Kritik. Verbesserungen kosten Geld, aber sie könnten sich rentieren.

„Es gibt Gutachten, da stimmt der Name nicht.“ Es gebe welche, die seien wortident mit der Überprüfung anderer Personen. Und es gebe Gutachten, bei denen die Delikte falsch bezeichnet seien, kritisierte Markus Drechsler, Obmann der Selbst- und Interessensvertretung zum Maßnahmenvollzug. Und die Gutachten seien bei Weitem nicht die einzigen Probleme, wenn es um die Unterbringung psychisch kranker Straftäter gehe. Gleichzeitig bleiben Reformmaßnahmen aus. Aber warum ist das so und welche Veränderungen bräuchte es? Darüber wurde beim letztwöchigen Rechtspanorama am Juridicum debattiert.

Das Thema ist zweischneidig. Einerseits hat der Staat die Pflicht, Bürger vor gefährlichen Menschen zu schützen. Andererseits ist es die Frage, wann kranke Personen im Maßnahmenvollzug und wann im Therapiezentrum besser aufgehoben sind. Und dann ist da noch das Problem, dass man aus dem Maßnahmenvollzug nicht so leicht wieder herauskommt, wenn man einmal drin ist.

„Es gibt immer noch Jugendliche und junge Erwachsene, die im Maßnahmenvollzug landen“, kritisierte Drechsler. Ganz schlimm sei das für junge Frauen, da es für diese zu wenig passende Einrichtungen gebe. Und ein großes Problem sei die Ungewissheit: Denn im Gegensatz zu geistig gesunden Tätern, die nach Absitzen der Strafe das Gefängnis verlassen, können psychisch Kranke unbefristet angehalten werden. Solange, bis ein Gutachter bei einer Überprüfung grünes Licht gibt. Es sei aber ein riesen Unterschied, ob man als Kranker in einer Justizanstalt oder in einem therapeutischen Zentrum angehalten werde, sagte Drechsler.

„Ich würde nicht sagen, dass es irgendwo speziell hakt“, meinte zur Situation Christian Manquet, Leiter der Abteilung materielles Strafrecht im Justizministerium. Das Ministerium arbeite seit Jahren an Änderungen. Nachdem im Jahr 2014 der Fall eines verwahrlosten Insassen in der Justizanstalt Stein bekannt geworden war, setzte der damalige Justizminister Wolfgang Brandstetter eine Expertenkommission zum Maßnahmenvollzug ein. „Der Entwurf hat aber nie das Tageslicht erblickt“, schilderte Manquet.

2016 sorgte der Fall eines psychisch kranken, aber behördlich bekannten Kenianers, der am Brunnenmarkt eine Frau mit einer Eisenstange erschlug, für Aufregung. Im Folgejahr wurde ein von der Universität Wien erstelltes Konzept für den Maßnahmenvollzug präsentiert, für den die Entwürfe der vorherigen Expertengruppe umgearbeitet worden waren. Aber dann seien die Neuwahlen dazwischen gekommen, sodass auch „dieser Entwurf nicht mehr finalisiert werden konnte“, schilderte der Beamte.

Keine verbindlichen Qualitätskriterien

Der Status quo ist für Volksanwältin Gertrude Brinek inakzeptabel. „Es sind tausende Beschwerden eingelangt“, sagte sie. Die Volksanwaltschaft hält Sprechtage für Insassen des Maßnahmenvollzugs ab. Oft gehe es um einfache Dinge, aber es seien auch schwere Probleme sichtbar geworden, erzählte Brinek. Dass ein psychiatrisches Gutachten über die Zukunft des Insassen entscheide, sei zu wenig, meinte Brinek. Sie forderte eine interdisziplinär aufgestellte Kommission, die prüft, wie der Insasse in Freiheit betreut werden könne. „Und es ist nicht genug Qualität vorhanden“, meinte Brinek zu den Gutachtern. So gebe es Personen, die hunderte Gutachten pro Jahr erstellen.

Die Sachverständigen sind eine aussterbende Zunft“, erklärte Gabriele Wörgötter, Fachärztin für Psychiatrie und selbst gerichtliche Sachverständige. „Es gibt Landesgerichtssprengel, in denen Sie keinen Gutachter unter 69 Jahren mehr finden“, sagte sie. Schuld sei die schlechte Bezahlung. Die wenigen Gutachter, die es gebe, seien überlastet. „Und da kann es zu Fließbandgutachten kommen“, erklärte sie. Es gebe „furchtbare Gutachten, aber auch sehr gute“. Nur: „Es gibt in Österreich keine verbindlichen Qualitätskriterien“, rügte sie. Und es könne leider vorkommen, dass Jugendliche nicht von Jugendpsychiatern beurteilt werden. Und wenn man Staatsanwalt oder Richter, die die Gutachter bestellen, darauf anspreche, heiße es nur: „Na, wir sind froh, wenn wir irgendwen finden.“

Thema für Politiker nicht attraktiv

Natürlich: Je genauer man bei Personen im Maßnahmenvollzug prüfe, ob diese wieder für die Freiheit geeignet sind, umso mehr koste das. Aber diese Kosten könnten sich rentieren, wie der Jurist und Soziologe Wolfgang Gratz, der in der Bewährungshilfe aktiv ist, betonte. Denn jeder Insasse koste 50.000 bis 60.000 Euro im Jahr. „Also insofern sollte man sich die Entscheidung schon etwas kosten lassen“, sagte er.
Und wird sich nun etwas ändern? Das Problem, so meinte Drechsler, sei, dass Politiker mit Reformen des Maßnahmenvollzugs nichts bei Wählern gewinnen könnten. Umso mehr brauche es einen Druck der Gesellschaft auf Reformen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2018)

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