Ein türkischer Offiziersschüler sagt aus, dass er von dem Staatsstreich nichts wusste. Die Rolle der jungen Soldaten wird die Gerichte noch länger beschäftigen.
Ankara/Wien/Berlin. Der Putschversuch – das große Rätsel. Mehr als zwei Jahre liegt die fatale Nacht in der Türkei bereits zurück, Licht ins Dunkel ist seither jedoch nicht richtig gekommen. Bei den bisherigen Verhandlungen sagten Kadetten immer wieder aus, dass sie nicht wussten, warum sie in jener Nacht ausrücken mussten. So berichtet die deutsche „taz“ vom Fall des Offiziersschülers Mustafa Sayar: Er ist wegen Verrats angeklagt, beteuert aber seine Unschuld und verweist vielmehr auf die höhere Ebene seiner Einheit – die sich jedoch in Freiheit befindet.
Eigenen Angaben zufolge war Sayar erst seit Kurzem in der Luftwaffenakademie, als am Tag des Putsches der Kommandant der Luftwaffe sowie der Generalleutnant die Kadetten besuchten und einen Vortrag zum Thema Gehorsam hielten. Es sei ungewöhnlich, dass ein derart hochrangiger Besuch gleich am Anfang der Ausbildung erfolge. Stunden später, vor Mitternacht, wurden die Schüler plötzlich angehalten, bewaffnet und ausgerüstet in einen Bus zu steigen, schildert Sayar. Warum, wurde ihnen nicht gesagt; er sei von einer Übung ausgegangen. Bei der Mautstation in Orhanlı jedoch, im asiatischen Teil von Istanbul, überfiel eine aufgebrachte Menge den Bus, sie töteten zwei der Soldaten. Augenzeugen warfen den Offiziersschülern vor, auf die Menge geschossen zu haben.
Putschist, nicht Gülenist
Auf Überwachungskameras seien keine Schüsse zu sehen, die von den Kadetten abgefeuert werden, schreibt die „taz“. Etwas später würden tatsächlich Schüsse fallen, Kadetten wie Zivilisten warfen sich auf den Boden. Der exakte Ablauf lasse sich kaum rekonstruieren. Sechs Menschen starben hier.
Allein von der Luftwaffe sitzen derzeit mehr als 259 Offiziersschüler verurteilt in türkischen Gefängnissen. Ihre Rolle in der Putschnacht, in der mehr als 250 Menschen getötet wurden, wird die Gerichte noch länger beschäftigen. Als Drahtzieher des Staatsstreiches benennt die türkische Regierung den islamischen Prediger Fethullah Gülen sowie den mittlerweile verhafteten General Akın Öztürk und den untergetauchten Islamprofessor Adil Öksüz. Er soll sich nach Berlin abgesetzt haben.
Was die mittlere und untere Ebene betrifft: Quer durch das Land hat die Justiz einen unübersichtlichen Prozessreigen gestartet. Die ersten Urteile sprach ein Gericht im Oktober 2017 in der anatolischen Provinz Erzurum aus. Kurze Zeit später wurde in der Provinz Muğla der Generaloberst Gökhan ?ahin Sönmezateş zu einer langen Haftstrafe verurteilt: Er soll den Angriff auf jenes Urlaubshotel geplant haben, in dem sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seiner Familie befand. Vor Gericht sagte Sönmezateş, dass er zwar ein Putschist sei, aber kein Mitglied der Gülen-Bewegung. Bislang verhängten die türkischen Gerichte mehr als 1600 lebenslange Haftstrafen, für mehr als die Hälfte von ihnen gelten erschwerte Bedingungen. (duö)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2018)