Viele Arten verschwinden, bevor wir sie entdecken können

Ist dieses Jahr in Österreich ausgestorben: die Blauracke.
Ist dieses Jahr in Österreich ausgestorben: die Blauracke.(c) Michael Tiefenbach
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Durch „DNA-Barcoding“ sollen alle in Österreich heimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten erfasst werden. Höchste Zeit, sagen Forscher: Sie warnen vor einem rapiden Biodiversitätsverlust und beklagen gleichzeitig einen massiven Daten- und Geldmangel.

Wer alt genug ist, um etwa zwanzig Jahre zurückzublicken, erinnert sich vielleicht noch an Autobahnfahrten im Sommer: Nach einigen Stunden war die Windschutzscheibe voller Insektenreste. Heute kann man dagegen quer durch Österreich fahren, ohne die Wischer auch nur einmal betätigen zu müssen. Das sei natürlich kein wissenschaftlich ermittelter Wert, eher ein Bauchgefühl, betont der Biologe Stephan Koblmüller von der Uni Graz. Es passe jedoch zu den Zahlen, die in einer Studie („Plos one, 2017“) für Deutschland ermittelt wurden: In den vergangenen drei Jahrzehnten sind über 75 Prozent der Biomasse flugfähiger Insekten verschwunden.

Doch wie genau sieht die Situation in Österreich aus? Wie viele Arten sind hier heimisch, wie schnell verschwinden sie? Hier können Forscher wie Koblmüller nur schätzen, denn zuverlässige Daten gibt es keine. 75.000 Spezies seien es mindestens, ist sich Nikolaus Szucsich, ebenfalls Biologe und am Naturhistorischen Museum Wien (NHM) beschäftigt, sicher – die Zahl sei eher konservativ. Darin enthalten seien lediglich Tiere, Pflanzen und Pilze, die Welt der Mikroorganismen bewege sich ohnehin in ganz anderen Dimensionen. Wie sich diese überdurchschnittlich große Artenvielfalt Österreichs im Lauf der Zeit entwickelt, welchen Einfluss der Klimawandel darauf hat oder wie viele Spezies bereits ausgestorben sind, bevor sie entdeckt werden konnten – niemand weiß das genau.

Genetische Visitenkarte

„Die Bestandszusammenbrüche einzelner Arten zeigen, wie stark der Biodiversitätsverlust bereits fortgeschritten ist. Die Zahlen sind dramatisch“, sagt Elisabeth Haring, Direktorin der zentralen Forschungslaboratorien des NHM. Deshalb sei eine detaillierte Erfassung der Artenvielfalt so wichtig, denn „man schützt nur, was man kennt“. Haring leitet zu diesem Zweck das Langzeitprojekt Abol (Austrian Barcode of Life), das den eklatanten Datenmangel in der Biodiversitätsforschung beseitigen soll. An der Initiative, die vom Wissensministerium gefördert wird, beteiligen sich Wissenschaftler aller österreichischen Universitäten und vieler Forschungsinstitute: „Alle, die in Österreich mit Biodiversitätsforschung zu tun haben, tragen in irgendeiner Form zu dem Projekt bei“, so Haring. Angesichts der Dimension des Vorhabens scheint das auch mehr als nötig: Sämtliche (nicht mikrobiellen) Lebewesen sollen eine Art genetische Visitenkarte erhalten.

DNA aus Umwelt nutzen

Sie enthält, verknüpft mit einer Vielzahl zusätzlicher Daten, vor allem eine etwa 650 Zeichen lange Gensequenz, den „DNA-Barcode“. Er erlaubt eine eindeutige Zuordnung selbst bei Arten, die äußerlich kaum voneinander zu unterscheiden sind. Und er bietet einen weiteren Vorteil: Man muss der Kreatur nicht zwangsläufig begegnen, denn die modernen Sequenziermethoden spüren selbst kleinste DNA-Mengen auf, die sie in der Umwelt hinterlässt. Am besten funktioniert das bei Wassertieren, „je größer und schleimiger, umso besser“, erklärt Bettina Thalinger von der Universität Innsbruck.

Die Ökologin nutzt die von Abol generierten Daten für ihre tägliche Arbeit: „Um ein Ökosystem zu beschreiben, sind diese genetischen Referenzdaten unerlässlich.“ Die Experten sind sich einig: Eine Bestandsaufnahme der österreichischen Artenvielfalt sei eine wichtige Grundlage, um der Zerstörung der Ökosysteme, von denen letztlich alle Menschen abhängen, entgegenzuwirken. Doch es fehle vor allem eines: Geld. „Wenn jedes Bundesland nur ein paar hunderttausend Euro für Abol ausgeben würde, wäre das schon ein großer Schritt“, betont Elisabeth Haring.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2018)

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