Ostsee

Wo man in Polen schnell Bernstein findet

Bernstein am Ostseestrand in Polen.
Bernstein am Ostseestrand in Polen.(c) imago/CHROMORANGE (CHROMORANGE / Hans-Joachim Schne)
  • Drucken

Wer im Winter an die Küste Pommerns reist, sieht Merkwürdiges: Skifahrer am Strand und Menschen, die sich ins Wasser stürzen. Beste Zeit, um den Schatz der Ostsee zu heben: Bernstein.

In der Ferne blitzt im Dunst der tief stehenden Morgensonne ein Scheinwerfer auf. Ein Motorroller ist auf den schneebedeckten Strand von Leba eingebogen und fährt den Brandungsrand entlang. Das Wasser hat einen dünnen Eisfilm, ein mehrschichtiges Muster der Wellen der vergangenen Nacht hinterlassen, die auch zehn Zentimeter Schnee und minus zehn Grad brachte.

Als sich der Motorroller nähert, sieht man zwei dick in Winterkleidung verpackte Leute, in einer Halterung steckt ein Käscher. Es sind Bernsteinfischer, die die Küste absuchen. Bereit, mit ihren Watstiefeln in die Fluten zu steigen, um im Tang zu stochern. Denn die vergangenen Tage war es stürmisch. „Nach Stürmen im Winter herrschen die besten Voraussetzungen, Bernstein zu finden“, sagt Ewa Lehmann-Bärenklau in der Wärme des Speisesaals im Hotel Neptun, das oberhalb einer Düne steht und der Szenerie etwas Barockes verleiht, wären da nicht Grüppchen an Menschen, die hektisch am Strand herumlaufen und tatsächlich in der eiskalten Ostsee schwimmen gehen, als wäre es Sommer.

Gemeinsam mit ihrem früheren Mann erwarb Ewa das Anfang des 20. Jahrhunderts als Kurhaus errichtete Gebäude 1992 als „Ruine“ und saniert es seitdem. Auch in der Nebensaison hält sie den Betrieb aufrecht; gut für die, die Bernstein suchen wollen. Denn mit einem Schritt vor die Tür steht man fast schon im Sand.

In der Ulica Mariacka in Danzig befinden sich die meisten Galerien.
In der Ulica Mariacka in Danzig befinden sich die meisten Galerien. (c) imago stock&people (imago stock&people)

Zwischen Algen und Treibgut

Die Ausbeute in der Früh ist jedoch mau, besser gesagt: Es gibt sie nicht. Nicht ohne Grund sind die Bernsteinfischer auf dem Motorroller heute vorbeigebraust. Selbst kleine Körnchen des versteinerten Baumharzes finden sich nicht zwischen den mit feinsten Eiskristallen übersäten Muscheln und den eisumhüllten Halmen von Seegras. Dass pommersche Ostseestrände im Winter gute Chancen für Bernsteinsucher bieten, darüber täuscht dieser Tag hinweg. Doch wenn das Wasser kalt und schwer ist, bekommt Bernstein dank seines geringeren spezifischen Gewichts mehr Auftrieb. Und ist die See aufgewühlt, wirft sie umso mehr Bernstein an den Strand, der sich oft in Saum aus Algen und Treibgut findet.

Viele Bernsteintouristen gibt es offenbar nicht, denn viel los ist auch im Ort selbst nicht: heruntergelassene Rollläden, zugenagelte Buden, kaum jemand auf der Straße. Wer im Winter kommt, könnte vermuten, die Einwohner hätten das im Sommer so vibrierende Leba fluchtartig verlassen. Immerhin: Das Bernsteinmuseum hat geöffnet. Mariusz Baranski führt Gäste durch die Ausstellung, man erfährt Grundsätzliches. Etwa, was Bernstein (polnisch Bursztyn) überhaupt ist. Denn ist das Baumharz jünger als fünf Millionen Jahre, könnte man es zwar für Bernstein halten. „Doch es handelt sich um Copal“, erläutert Baranski, also die noch nicht ganz versteinerte Vorstufe. „Es ist zu weich, um es zu Schmuck weiterzuverarbeiten.“

Und damit eher wertlos. Bei einem Alter von fünf bis 20 Millionen Jahren werde von jungem Bernstein gesprochen, ab 20 Millionen Jahren von Bernstein. Der in Polen und der Ostsee verbreitete Baltische Bernstein, das größte Vorkommen weltweit, sei um die 40 Millionen Jahre alt. Zwar gebe es noch älteren, etwa in Kanada Bernstein im Alter von 200 Millionen Jahren, doch der Baltische ist der variantenreichste. Es gibt ihn honigfarben, transparent, undurchsichtig, grünlich. Und elfenbeinfarben, die seltenste Sorte, die wegen vieler kleiner Lufteinschlüsse so hell ist. Je nach Qualität, so Mariusz, wird Bernstein für 5000 Euro bis zu 50.000 Euro das Kilo angekauft. Er ist teilweise kostbarer als Gold.

Urzeitlicher Strom

„Dass Pommern so reich an Bernstein ist, liegt am Eridanus, einem großen Fluss“, erläutert der Experte. Vor Jahrmillionen transportierte dieser urzeitliche Strom Sedimente und Reste eines riesigen Koniferenwaldes, der heute Bernsteinwald genannt wird, in die Gegend der heutigen Danziger Bucht, wo er in einem großen Delta mündete. „600.000 Tonnen liegen noch in den Böden Polens verborgen“, sagt Baranski. Der überwiegende Teil des zu Schmuck verarbeiteten versteinerten Harzes stamme indes aus einer Bernsteinmine in der russischen Exklave Kaliningrad. Ein nicht mehr aktives Tagebaugebiet ist der Bernsteinberg Bursztynowa Góra südwestlich von Danzig, wo schon im 10. Jahrhundert nach Bernstein gegraben wurde. Er kann heute besichtigt werden.

„Aber illegaler Abbau ist ein Problem“, so Baranski. Kriminelle graben dazu tiefe Löcher in den Waldboden und füllen sie mit mindestens zehnprozentigem Salzwasser. Ist Bernstein vorhanden, steigt er in dieser Lösung langsam an die Oberfläche. „Der Nebeneffekt ist, dass der umliegende Boden unfruchtbar wird. Außerdem können später Wanderer in die Löcher fallen“, klagt Mariusz. In einer Nacht könnten die Gauner Bernstein im Wert von 10.000 Zloty (ca 2400 Euro) gewinnen – die Strafen hingegen lägen nur bei 500 Zloty (120 Euro). Mit maximal fünf Prozent ihres Ertrags müssen die Diebe ihre Taten bezahlen.

Auch Fälschungen sind ein Problem, mit denen es die Chemikerin Agnieszka Klikowics-Kosior und ihr Mann, Michał Kosior, von der International Amber Association (IAA), des Danziger Bernsteinverarbeiter-Verbands, zu tun haben. „Jeden Monat erhalten wir künstlich hergestellten oder gepressten Bernstein“, erzählt Klikowics-Kosior. In ihrem Labor nimmt sie ein feines Schmuckstück in die Hand. Es ist seifengroß und zeigt die Gravur eines Fischs und eines Vogels. „Man könnte es für echt halten“, sagt die Expertin und hält es in den Strahl einer Schwarzlicht-Taschenlampe: „Wie bei einem echten Bernstein haben die Fälscher fluoreszierende Teilchen eingearbeitet.“ Sie ist besorgt, wie gut mittlerweile gefälscht wird. Damit solche Stücke es erst gar nicht in den seriösen Handel schaffen, vergibt die IAA an ihre Mitglieder, Händler aus 32 Ländern, Echtheitszertifikate. Umgekehrt können Kunden mit erstandenen Schmuckstücken, etwa aus einer der Bernsteingalerien Danzigs, ins Labor in die Ulica Warzywnicza 1 kommen und die Echtheit kostenlos prüfen lassen.

Echtheit laut Kurve

Klikowics-Kosior betrachtet den Einkauf zunächst mit dem bloßen Auge, weisen etwa die Steine einer Kette identische Farbmuster auf, liegt die Fälschung auf der Hand. Die Struktur von gepresstem Bernstein erkennt die Expertin oft erst unterm Mikroskop. „Hab ich bei gut gemachten Fakes immer noch Zweifel, kommt unser 40.000 Euro teures Spektralfotometer zum Einsatz.“ Das Gerät im Format eines PC-Druckers durchleuchtet den Bernstein, analysiert das reflektierte Licht nach Farben und spuckt das Ergebnis als wellenförmigen Graphen aus. „Hier sehen Sie es“, sagt die Chemikerin und zeigt auf einen Knick in einer der Wellen am Bildschirm, „das ist die Baltische Schulter. Wenn Sie die sehen, ist der Bernstein echt.“

Ob die Stücke, die man in der „Welthauptstadt des Bernsteins“ in den vielen Galerien kaufen kann, echt sind, daran hat Krzysztof Kester seine Zweifel. In der Ulica Mariacka zeigt der Guide auf einen Holztisch in einer Boutique: „Solche großen Stücke können nicht echt sein, sonst lägen sie geschützt in einer Vitrine.“ Auf der jährlichen Messe Ambermart oder im Kunsthandwerk mit Fakes zu hantieren wäre höchst rufschädigend.

Stadtweit bekannt sind die Manufakturen Michel oder Nac Amber. In der Schmuckherstellung entsteht ein Nebenprodukt, das dem Material weitere Sphären öffnet: Bernsteinpuder. „Statt Weihrauch wird es bei Zeremonien in der Kirche verbrannt“, sagt Andrzej Gierszewski vom Danziger Bernsteinmuseum.

Und die Wellness-Welt bereichert es auch, der Kosmetiksalon Balola in Zoppot bezieht das fein gemahlene Urzeitbaumharz von Nac Amber fürs Ganzkörperpeeling. Auch das Mera Spa im Marriott, direkt am Strand des Ostseebads, setzt auf die heilende Kraft von Baltic Amber für Massageprodukte und hat eine Kosmetikmarke ins Leben gerufen. „Seit der Steinzeit verwenden Menschen Bernstein für medizinische Zwecke“, sagt Spa-Supervisor Karolina Peplińska. Vor allem der in der äußersten Schicht vorkommenden Bernsteinsäure wird heilende Kraft zugesprochen. Der Effekt trete schon bei Hautkontakt ein. „Außerdem hilft es bei der Produktion des Glückshormons Serotonin“, so Peplińska. Gegen Verdauungsprobleme, Rückenschmerzen oder Mi
gräne soll eine Tinktur helfen, die aus kleinsten Steinen und 95-prozentigem Spiritus angesetzt wird.

An der Stränden der Danziger Bucht, wo Bernsteinfischer schon in der Nacht mit UV-Licht-Lampen den Sand absuchen, ist es für Hobby-Bernsteinsucher oft das größere Rätsel, das versteinerte Harz überhaupt zu erkennen. „Da wäre die Temperatur. Bernstein ist wärmer als Stein und viel leichter“, erläutert Kosior vom IAA. Lasse sich seine Oberfläche mit einer Nadel leicht ankratzen, handle es sich um keinen normalen Stein. „Und wenn man es reibt, riecht es nach Harz. Gehen Sie an den Strand von Sobieszewo südlich von Danzig, da werden Sie sicher was finden.“

Am nächsten Morgen hat die Sonne die Luft am Sobieszewo-Strand so weit erwärmt, dass sich kleine Nebelwölkchen gebildet haben. Noch ist der breite, schneebedeckte Strand, den später Spaziergänger in gebückter Haltung und ein Mann auf Langlaufski entlangwandern werden, ganz verlassen. Es ist klirrend kalt. Wir sind mit der Familie unterwegs. Dann urplötzlich: „Ein Bernstein! Und da, noch einer!“ Es dauert nicht lang, da haben die Kinder eine Handvoll gesammelt. Die großen Brocken haben sich womöglich die Profisammler bei UV-Licht noch in der Nacht geholt; an einem Strand in Danzigs Nähe wurde sogar ein Exemplar mit einer eingeschlossenen Eidechse gefunden. So einen großen Ostseeschatz hebt die Familie an diesem Tag zwar nicht, doch ein Blick in die Gesichter der Kinder verrät: Es muss etwas dran sein an der Geschichte mit dem Glückshormon.

Infos

Unterkunft und Spa: Im Winter hat in Leba das Hotel Neptun geöffnet, ein altes Kurhaus am Strand, neptunhotel.pl

Im Seebad Zoppot an der Strandpromenade liegt das Marriott, das im Spa Bernsteintreatments anbietet, marriott.com

Körperbehandlungen unter Verwendung von Bernsteinpuder bietet auch der Kosmetiksalon Balola. balola.pl

Bernstein suchen, finden, kaufen: Im Winter findet man oft viel mehr Bern- stein als im Sommer, besonders an der Pommerschen Ostsee und speziell den Stränden der Danziger Bucht, etwa dem Stogi-Strand in Danzig oder etwas außerhalb am Strand von Sobieszewo. Wer Bernstein kaufen möchte, ist in Danzig gut bedient, die meisten Galerien sind in der Ulica Mariacka in der Rechstadt. Beim Kauf auf Zertifikat des Händlers

achten. Kostenfrei auf Echtheit prüft der IAA (amber.org). Fundstücke und Kunsthandwerk mehrerer Jahrtausende zeigen Bernsteinmuseum (Targ Weglowy 26) und Museum für Bernsteininklusionen der Uni Danzig (Wita Stwosza 59).

Info: prot.gda.pl

Compliance: Die Reise wurde vom Polni- schen Fremdenverkehrsamt, Pomorski Travel und den Hotels unterstützt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.