Von unten nach oben nach unten

„Der Mann beschließt, nicht nach Hause zu gehen. Er beschließt, diesen Abend und die darauffolgende Nacht hier zu verbringen. Im Lift.“ Eine Erzählung.

Ein Mann, kein armer Mann, eigentlich ein reicher Mann, reich zumindest in dem Sinn, dass er nur die linke Seite der Speisekarte liest, kommt von der Arbeit, einer gut bezahlten Beschäftigung, die er gerne ausführt, wie seine Freunde und Bekannten bestätigen würden, eine Beschäftigung,
die ihn ausfüllt und sogar weiterbringt,
und bei der er andere anfüllt und weiterbringt. Er geht die Straße entlang, ist auf dem Weg nach Hause, beschließt auf einmal, einen Umweg zu machen, heute, zur Abwechslung eine andere Straße zu nehmen, nicht diejenige, die er jeden Tag geht. Eine andere.

Ich wiederhole: Der Mann liebt seine Arbeit.

Der Mann liebt auch sein Zuhause.

Er fühlt sich wohl.

Dennoch gibt es Tage, wenige, aber es gibt sie, Tage wie den heutigen Tag, an denen er es als unnatürlich empfindet, so zu leben, wie er lebt. Ein Tag, an dem ihm die Tatsache, dass er auch an diesem Tag, wie jeden Tag, wieder durch dieselben Straßen gehen wird, zur selben Uhrzeit wie an den anderen Tagen; dass er ungefähr dasselbe getan hat, einen ungefähr ähnlich erfolgreichen Tag hinter sich hat, wie es die anderen Tage dieser Woche gewesen sind und die der Wochen davor; ein Tag, an
dem ihm diese Wiederholung unerträglich vorkommt.

Also nimmt er einen anderen Weg. Zur Abwechslung. Ein wenig Abwechslung. Das genügt ihm. Meist genügt es ihm. Er geht eine Straße entlang, weicht Bäumen und Laternen aus, betrachtet die Schaufens-
ter. Eines davon ist keins, sondern eine Tür aus Glas. Als er davor stehen bleibt, öffne-
te sie sich. Dahinter befindet sich ein Lift. Er steigt ein. Der Lift ist mit einem weichen grauen Teppichausgekleidet. Das gefälltihm. Der Mann bleibtlange Zeit im Lift. Wielange, weiß er bald nicht mehr genau, er trägtkeine Armbanduhr, undsein Mobiltelefon, vondem er sonst die Zeitabliest, ist ausgegangen.Der Akku ist leer.

Sobald er im obers-
ten Stockwerk ankommt, drückt er auf die Null und fährt hinunter. Sobald er bei Null angelangt ist, drückt er wieder den obersten Knopf und fährt ganz hinauf. Während dieser Minuten oder Stunden im Lift denkt er an nichts. Vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben ist sein Kopf leer, kein einziger Gedanke darin, und er genießt es. So sehr, dass er dieses neue unbekannte Gefühl lange auskosten will. Ihm gefällt die Fahrt, das Heben des Magens bevor die Kabine zum Stillstand kommt. Noch nie scheint ihm etwas so gut gefallen zu haben wie dieser Lift.

Der Mann beschließt, nicht nach Hause zu gehen. Er beschließt, diesen Abend und die darauffolgende Nacht hier zu verbringen. Im Lift. Der Mann ist zufrieden und stolz auf seinen Entschluss und fährt noch mehrere Male auf und ab. Bald wird ihm allerdings klar, dass dieser Lift kein idealer Unterschlupf für ihn ist. Er fährt ins Erdgeschoß und steigt aus. Er braucht einen Lift mit Toilette. Der Teppich hat ihm gefallen. Er will einen Teppich in seinem Lift, einen weichen Teppich, gegen den er sich lehnen kann. Er macht sich auf die Suche. In den kommenden Stunden streift er durch die Stadt und testet Lifte.

Der Test erfolgt nach bestimmten Kriterien. Er bewertet die Qualität des Liftes
an sich, aber ebenso die der Umgebung,
die hygienischen Umstände, Toilett- und Waschmöglichkeiten. Soll der Lift als Quartier in Frage kommen, muss er größer sein als ein durchschnittlicher Aufzug. Der Lift muss öffentlich zugänglich sein, aber nicht zu häufig frequentiert. Lifte von Wohnhäusern scheiden von vornherein aus. Der Mann will Luft zum Atmen; will neben den unausweichlichen anderen Passagieren seine eigene Ecke haben. Die anderen werden sich ein bisschen zusammendrücken müssen. Er wird sich Mühe geben, etwas auszustrahlen, das die anderen Liftreisenden dazu bringt, Abstand zu halten und ihm seinen eigenen Lebensraum zu gewähren. Eine gewisse Privatsphäre ist essenziell, und die will er sich bewahren – sei es in einem öffentlichen Lift. Sei es für begrenzte Zeit. Nur für eine Nacht.

Für eine Nacht, sagt er sich, während
ihm stets deutlicher wird, dass das nicht stimmt. Wozu sonst diese Sorgfalt, die Anstrengung, den besten aller Lifte zu finden? Für eine Nacht? Für eine Nacht wäre der erstbeste Lift gut genug gewesen. Für eine Nacht wäre der Rinnstein Toilettgelegenheit genug. Nein, eigentlich weiß er, dass es für länger sein wird. Mehr als eine Nacht. Viel mehr.

Versteht sich, dass er schwerlich einen privaten Lift bekommen wird, dass er den anderen potenziellen Liftbenützern die Nutzung seines auserkorenen Liftes nicht untersagen können wird. Schließlich müssen sie, ebenso wie er, die Möglichkeit haben, von oben nach unten zu gelangen, und von unten nach oben. Nur, für sie ist der Lift ein Transportmittel; sie besteigen es für eine kurze Reise. Für ihn wird der Aufenthalt im Lift zur Lebensform. Seine eben entdeckte Lebensform. Sobald er den richtigen Lift gefunden hat, wird er angekommen sein. Und die anderen werden noch unterwegs sein. Jedes Mal wenn er mit jemandem den Lift teilt, seinen auserwählten Lift, wird es so sein. Er zu Hause. Der andere unterwegs. Der andere im Zweifel. Er dort, wo er, wie er seit heute weiß, hingehört.

Er testet und testet, wundert sich, wie viele allgemein zugängliche Lifte es gibt, trotz der späten Stunde. Ist erstaunt, wo überall ein Lift eingebaut ist, in welchen Häusern, sogar in relativ niedrigen. Er will einen Lift in einem hohen Gebäude, mindestens zehn Stockwerke. Wichtig im Test sind die potenziellen Passagiere. Der Lift muss ein Lift mit interessanten Menschen, schönen Menschen, gebildeten Menschen sein. Menschen, die gut riechen und freundlich sprechen. Menschen mit angenehmen Stimmen. Von unten nach oben. Von oben nach unten. Er weiß, was er will. Er hat sich wohl gefühlt. Jetzt fühlt er sich wohler.

Er liebt sein Zuhause.

Der Lift seiner Wahl wird ihm ans Herz wachsen.

Nach vielen Stunden des Herumirrens fällt plötzlich und auch für ihn überraschend die Entscheidung. Esmag damit zusammenhängen, dass seine anfangs schier nicht en-
den wollende Energiedoch zur Neige geht;dass ihm die fortschreitende Nacht Kälte und Feuchtigkeit unter den Mantel schickt. Er entscheidet sich für den Lift eines Gebäudes, das seit Kurzem, seit wenigenWochen erst, die moderne Galerie beherbergt. Früher war dort das Hauptpostamt der Stadt.

Er betritt das Gebäude nicht zum ersten Mal. Einst hat er hier – wenn man es
genau nimmt, ist es noch gar nicht
so lange her – seine Doktorarbeit aufgegeben. Persönlich hat er sie abgeschickt. In fünfzehnfacher Ausfertigung, in fünfzehn Kuverts verpackt, in den Container geworfen, der dann in genau diesem Lift, in dem er jetzt nach oben fährt, nach unten geglitten ist, in den Keller, wo die Schiffe warteten, die Eisenbahnen, die LKWs, die seine Arbeit zu den internationalen Mitgliedern des Gremiums brachten, das sie beurteilte.

Der große Vorteil dieses Liftes, des Aufzugs des ehemaligen Postamtes – nun ein Museum – besteht darin, dass er nicht
ein einziger ist, sondern sechs. Sechs Lifte nebeneinander. Vier davon haargenau gleich, mit Teppichen an den Wänden, wie im ersten Lift des Abends, dem, mit dem alles begann; zwei ganz aus Glas. Steht man in den gläsernen Aufzügen, liegt einem das Hafenviertel zu Füßen, und man überblickt die ganze Stadt. Sogar sein eigenes Zuhause, sein früheres Zuhause, das er heute nicht mehr erreicht hat, kann der Mann erkennen. Sind die Fenster erleuchtet? Er sieht es nicht.

So verbringt er den Abend, gleitend über der Stadt. Er genießt die Aussicht.

Für die Nacht wählt er einen der übrigen vier Lifte.

Zum Schlafen sind ihm Wände aus Teppich lieber als Fenster.

Immer wieder den Lift wechselnd, gelingt es ihm, die folgenden Tage unbemerkt zu bleiben. Sobald er den Eindruck hat, einer der anderen Liftbenützer schöpfe Verdacht, es fiele ihm oder ihr auf, dass immer derselbe Mann im Lift steht, steigt er um. Obwohl es sechs Lifte für dieselbe Strecke gibt, hat er tagsüber selten einen für sich alleine. Die Leute haben das Stiegensteigen verlernt. Nur wenige Menschen fahren nie mit einem Lift. Aber niemand, niemand außer ihm, fährt unentwegt. An den Abenden wird es ruhiger, und auch die frühen Morgenstunden kann er ungestört genießen.

Er entwickelt ein System, wie er, wenn er die Knöpfe in einer bestimmten Kombination drückt, den Lift mehr als eine halbe Stunde lang am Fahren halten kann, ohne dass er in irgendeinem Stockwerk stehen bleibt. Er hat es lieber, wenn der Lift in Bewegung ist, während er langsam in ei-
nen Halbwachzustand gerät. Dann träumt er besser.

Irgendwann in der Nacht lässt er dem Lift Ruhe, gönnt der Maschinerie eine Pause. Er bringt ihn in einem Stockwerk zum Stehen, niemals im untersten, meist im obersten, und schläft, im Sitzen, an die teppichbedeckte Wand gelehnt. Er schläft fest. Einmal überrascht ihn ein morgendlicher Liftbenutzer im Schlaf. Erschrocken rappelt er sich auf. Schüttelt sich ein wenig. Tut auf die besorgte Frage des Liftbenutzers, als wäre ihm nur ein bisschen schlecht geworden. In der folgenden Nacht stoppt er den Lift zwischen zwei Stockwerken. So bleibt er ungestört, bis er erwacht.

Die Toiletten des Museums findet er ausgezeichnet. Sogar eine Dusche ist vorhanden. Die benützt er gegen Mittag. Dann ist das Haus voll, und niemandem fällt auf, dass sich da einer auf der Behindertentoilette einschließt und duscht. Da er den
Lift nicht zu lange und das Gebäude keinesfalls verlassen will, ersteht er einige Kleidungsstücke im Museumsshop. Kunstbedruckte T-Shirts, Pullover mit handbestickten Rändern.

Ob er in diesem seltsamen Aufzug nicht auffällt?

Ganz und gar nicht. Viele Besucher des Museums ziehen sich noch auf der Toilette ihre eben erworbenen Souvenirs an.

Anschließend isst er im Restaurant. Es ist teuer, aber gut. Langsam kennt er die angebotenen Speisen zwar, aber der Koch hat doch immer wieder die eine oder andere Überraschung für ihn bereit, sei es, weil er ein Gericht zu spät aus dem Ofen holt. Geld hat der Mann noch immer genug.

Von dem öffentlichen Fernsprecher im Foyer ruft er am ersten Morgen nach der ersten Nacht im Lift seine Arbeitsstelle an. Sagt, er sei unfähig zu kommen. Der Kollege am anderen Apparat hat Mitleid. Er nimmt an, der Mann sei krank. Doch nein. Nicht krank. Nur unfähig. Der Mann besteht nicht darauf. Er vermeidet zu lügen. Ihm liegt an der Präzision. Unfähig, sagt er. Da er eine höhere Position bekleidet, wagt niemand, eine Arztbestätigung von ihm zu verlangen. Er erhält weiterhin sein Gehalt. Das Geld hebt er am Bankautomaten im Foyer ab, ein Relikt aus der Zeit, da das Museum ein Postamt war. Nachmittags kauft er sich einen Snack an der Snackbar. Einen Toast mit Mayonnaise, einen Schokoladeriegel. Die Mitarbeiter glauben, er sei Kunststudent. Er schreibe einer Arbeit. Er lässt sie in dem Glauben.

Selten spricht er mit jemandem. Die Gespräche erschöpfen sich in kurzen Fragen nach dem Stockwerk, in dem jemand aussteigt. Manchmal, oft, stehen fünf oder zehn Menschen schweigend nebeneinander im Lift, starren auf den metallenen Rippenboden des Aufzugs oder die leuchtende Anzeigetafel, die das Stockwerk angibt. Jemand kommt herein, telefoniert, telefoniert, telefoniert die ganze Fahrt lang, steigt aus, hat nur Hallo gesagt. Der Mann steigt um,
stellt sich in den Lift mit den Glaswänden. Fährt in den obersten Stock. Drückt auf Null, fährt hinunter. Schaut zu, wie der Tag sein Licht verliert und die Stadt der Nacht ihre Lichter gibt.

Eines Morgens hat er genug von seinem Schweigen und fängt an, die Passagiere des Liftes anzusprechen, sie zu befragen. Hundertfünfundfünfzig Sekunden haben sie Zeit für eine Antwort. Höchstens. Er hat es ausgezählt. Wenn sie von ganz unten nach ganz oben fahren. Dann steigen sie aus. Mitten im Wort. Im Museumsshop kauft er ein kleines Heft und schreibt auf, was die Leute sagen. Kurze Sätze sind das. Sätze, die in hundertfünfundfünfzig Sekunden passen. Meist weniger.

Headlines.

Ein Leben in der Kürze eines SMS.

An einem Dienstag zieht er in den Lift. Am Samstag füllt sich der Lift mit Ausgehvolk, jungen nabelfreien Mädchen. Am Montag bleibt das Museum geschlossen. Er wird entdeckt und als irr abgeführt. Die folgenden Monate verbringt er in der Psychiatrie. Das wird Sie kaum überraschen?

Als er herauskommt, kauft er sich ein Haus. Nicht dass er ein Haus will. Er hat
ein Haus gehabt. Das Haus, das er liebte. Das Haus, das er niemals wieder betreten hat, nachdem er eines Abends auf dem Nachhauseweg in eine andere Straße abgebogen ist. Sein neues Haus ist nicht groß, aber hoch. In jedem der Stockwerke befindet sich nur ein Zimmer. Das Haus ist alt und besitzt ein antikes Stiegenhaus. Er lässt die Stiege abtransportieren und einen Lift einbauen. Er lässt die Zimmer von der
Mitte heraus verschmälern, bis von ihren Fußböden nur mehr ein Rand übrig bleibt. Der Rahmen seines eigentlichen Wohnortes. Ein Lift mit einem flauschigen Teppich an den Wänden. Ein Lift mit eingebauter Toilette und Dusche. Ein Lift, wie er ihn will. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2010)

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