Quasimodo am Küniglberg

Die Biografie der Skinheads ist wichtiger als die Hysterie in FPÖ und ORF.

Bevor die Aufregung um die TV-Sendung „Am Schauplatz“ und die beiden Wiener Skinheads Kevin und Philipp endgültig in Hysterie umschlägt, sollte jemand FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und die versammelten Vertreter des ORF darauf aufmerksam machen, dass es nicht immer nur um sie geht. Wer den Beitrag gesehen hat, den bewegen wahrscheinlich ganz andere Themen.

Was die offenen Fragen zur Sendung selbst angeht, ob also zum Schaden der FPÖ manipuliert worden ist oder nicht, so wird sich das mit den modernen technologischen Mitteln wohl rasch klären lassen. Ob aus einem Videoband Teile herausgeschnitten worden sind und dieses mit einem neuen Timecode versehen wurde, lässt sich feststellen. Kein Grund, so zu hyperventilieren, wie es alle im ORF-Zentrum derzeit tun. Ob für Neonazisprüche gezahlt worden ist oder nicht, sollte sich auch klären lassen. Vorerst gilt für die Beteiligten die Intelligenzvermutung. So dumm sind Redakteure und Verantwortliche am Küniglberg nicht. Und wenn doch, wird es eben Konsequenzen geben müssen, will der ORF das Leitmedium bleiben, zu dessen Verteidigung sogar Ex-Mitarbeiter bei der leisesten Kritik in Scharen ausrücken, als läge der Mittelpunkt der Welt im 13. Wiener Bezirk.

Viel interessanter aber als die Egomanie in FPÖ und ORF war am „Schauplatz“ der soziale Subtext der Reportage: Wie kann es sein, dass ein 13-Jähriger die Schule bei einer Schulpflicht bis 15 Jahre einfach verlässt und niemanden von den betreffenden Stellen der Gemeinde Wien – Stadtschulrat und/oder Jugendamt – kümmert's? Wie kann es sein, dass man einen Jugendlichen so abrutschen lässt, bis er in der Neonaziszene landet? Wenn die Version von Philipps Mutter und dem Schulabgang mit 13 stimmt, dann müssen mehrere Stellen versagt haben.

Im Wiener Stadtschulrat hieß es, zuerst würden Geldstrafen wegen Verletzung der Schulpflicht verhängt. Bei Uneinbringlichkeit werde das Jugendamt eingeschaltet. In der Jugendwohlfahrtstelle des 10. Wiener Gemeindebezirks (also MA 11) hieß es, „wir versuchen etwas zu tun“ – sofern eine Meldung einlange. An und für sich sei aber „Schulverweigerung“ kein Grund für das Jugendamt, aktiv zu werden. Und ob ein Jugendlicher mit dieser Versagerbiografie zu den Skinheads abdriftet, sei auch nicht Sache des Amtes, sondern „Aufgabe der Eltern, sich darum zu kümmern“. Sie könnten ja jederzeit das Jugendamt um Hilfe bitten. Für Streetworker, die vielleicht die Szene im Auge haben und sich um so aggressiv aussichtslose Jugendliche wie Philipp kümmern könnten, sei die MA 13 zuständig.

Im ORF wird man das zwar nicht so sehen, aber das Versagen von Eltern und Jugendamt im Leben des Skinheads von der traurigen Gestalt ist viel bedeutender als die Befindlichkeit von jemandem, den man am Küniglberg als Quasimodo (© Johannes Fischer) inszenieren könnte.

Anneliese Rohrer ist Journalistin in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2010)

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