Burgund per Hausboot: Das Erlernen der Langsamkeit

Gockel krähen, Hühner gackern, Glocken läuten, das Wasser gluckst. Sonst ist nichts zu hören von der Jetztzeit. Wasserkutschen führen direkt, aber gemächlich, ins Mittelalter und zu den Geburtsstätten der Gotik.

David Quillin folgt mit dem Blick den gelbgrünen Tropfen, die langsam am Glasrand abperln und schenkt nach. „Die Zisterzienser“, sagt er, „schöpften ihr Wissen über den Wein aus der Beobachtung der Natur. Dort, wo der Schnee im Frühjahr zuerst schmolz, ganz oben am Hügel, erkannten sie, reifen die Trauben am besten. Dort befinden sich auch heute die besten Lagen, dort gedeiht der „Chablis grand cru“.

„La coche d'o“, die Anlaufstelle für Crashkurse in Sachen Chablis, befindet sich auf einem Boot, einer zur Bar umgebauten „penichette“. Übersetzt bedeutet das so viel wie Wasserkutsche. So hießen die Boote, die früher von Pferden die Yonne flussaufwärts gezogen wurden. Der Wein gelangte nach Paris, von dort trat der Chablis dann seinen Siegeszug um die Welt an.

Nicht nur der Wein, auch die Wasserkutschen gehören bis heute zum Burgund. Sie liegen am Ortsrand vertäut und machen den hübschen Steinhäusern als Feriendomizile Konkurrenz. Sonnenschirme beschatten das Oberdeck, Fahrräder lehnen an der Reling, Blumenschmuck rankt sich übers Geländer, Wäsche baumelt an der Leine. Im Eiskasten wartet der Chablis auf seine große Stunde, wenn es Zeit wird für den Aperitif, wenn die Sonne sich dem Horizont nähert und die Dächer eine Spur röter erscheinen lässt.

Sich treiben lassen...

Neben dem Wechsel der Perspektive bringt das Betrachten der Landschaft vom Boot aus noch weitere Vorteile. Der Fluss folgt in den seltensten Fällen dem Verlauf einer Straße oder Bahnstrecke. Er mäandert. Autos oder Eisenbahnen tauchen so gut wie nie auf, die meisten Siedlungen liegen im Hinterland und geben mit ihrer unveränderten Dorfstruktur und dem Kirchturm in der Mitte ein mittelalterliches Bild ab. Zu hören ist immer nur das Glucksen des Wassers, ein Gockelhahn, vielleicht auch fernes Glockengeläut. „Gemächlich“, dieses Wort drängt sich einem schon nach den ersten Stunden an Bord auf. Das Fahrgefühl liegt irgendwo zwischen Im-Segelboot-Dahingleiten und Radfahren. Zwischen Sich-treiben-Lassen und sanft Beschleunigen, zwischen Wachsein und Träumen. „Geduld“ folgt als nächstes Vokabel im Wörterbuch der Hausbootfahrer. Und dann kommt schon „Genuss.“

...warten, zuschauen...

Warten, bis der Schleusenwärter aus seinem Häuschen kommt, an der Kurbel dreht oder an den Knöpfen drückt und die Schleuse sich öffnet. Ja nicht zu viel Gas geben, nicht zu schnell sein, den Rückwärtsgang einlegen, auf den Quai zusteuern... zuschauen, wie zwei Crewmitglieder an Land gehen und die Leinen um die Pfosten schlingen; warten, bis die Schleusentore sich schließen, bis das Wasser sinkt, oder steigt – je nachdem, ob das Boot sich über dem Flussniveau oder darunter befindet; beobachten, wie die „Matrosen“ das Boot losmachen...und wieder, bis die Schleusentore langsam aufgehen und einem erneut der Fahrtwind um die Ohren streicht.

Anders als sonst beim Reisen geht es hier nicht darum, möglichst schnell von A nach B zu gelangen, sondern zu erleben, wie Zeit verrinnt, die Uhren stillstehen, obwohl Bewegung stattfindet. Eine Skala am Armaturenbrett zeigt die Geschwindigkeit in „Touren“ an, dividiert durch 20 ergeben sich die Km/h. Mehr als sechs werden es selten. Oft geben Verkehrsschilder Begrenzungen vor. Für eine Strecke, die man auf der Autobahn in 40 Minuten zurücklegt, benötigen Wasserkutscher in ihrem Element 21 Stunden. Da sie aber gern Pausen einlegen, werden schließlich sieben Tage draus: klassische Hausbootferien in Burgund, eineinhalb Stunden von Paris entfernt.

Zu den „Erfindungen“ des Burgund zählt neben dem Chablis auch die Gotik. „Die Entwicklung der abendländischen Architektur begann ganz einfach“, erklärt Jean-Yves Guillaume, Deutschlehrer in Sens und gelegentlich Fremdenführer: „Mit einer Mauer, die einen Raum umschließt. Hier in Sens fängt die Architektur nun an: aus dieser Mauer, einer schlichten Raumbegrenzung, etwas Hochdramatisches zu gestalten.“ St.Étienne, zwischen 1143 und 1163 errichtet, ist die erste Kathedrale der Gotik. Sie hat tatsächlich etwas Besonderes, Epochales, etwas, das ein Gefühl zurücklässt wie beim Betrachten der Fernsehbilder von der ersten Mondlandung. Der Bischof von Sens, der den Bau in Auftrag gab, war mit acht Bistümern, darunter Paris, ein mächtiger Mann. Von seinem Herrschaftsbereich aus verbreitete sich die sakrale Gotik, und mit ihr das neue Weltbild. Die später im 13. und 16. Jahrhundert eingefügten Glasfenster berichten schon von einer ganz anderen Zeit. Hier betritt das Bürgertum die Bühne. Wer Geld besaß, spendete es für die Fenster und wurde darauf verewigt. Eine Rosette zeigt das jüngste Gericht mit Szenen aus der Hölle, die auf der gegenüberliegenden Seite das Himmelreich – so war die Symmetrie von Gut und Böse zumindest im Inneren des Gotteshauses gewahrt. Draußen sah alles anders aus.

Mächtige Clans rivalisierten miteinander. Der Herzog von Burgund „Jean sans peur“, Johann ohne Furcht, zeichnete sich bei den Kreuzzügen durch Tapferkeit aus und erhielt so seinen Beinamen. Zu einer Unterredung mit dem Thronfolger, dem zur Partei der Armagnacs gehörenden Charles, erschien er ohne Eskorte und wurde vom Gefolge seines Gegners heimtückisch ermordet. Das Treffen fand auf einer Brücke bei Montereau statt.

Berühmte Rote

Seither ist viel Wasser die Yonne hinuntergeflossen. Von den beiden Adelsgeschlechtern zeugen immer noch die in der Welt der Weine und Weinbrände verankerten Namen. Armagnac ist Genießern ein Begriff und bei Burgunder denkt jeder an berühmte Rote. Sie kommen hier nicht nur im Glas, sondern auch in den Kochtöpfen zu Ehren. Die „sauce morette“ zum Beispiel besteht aus Schalotten, Speckwürfeln und Champignons, die, in der Pfanne angeröstet, mit Wacholder, Nelken, Rosmarin und Lorbeer verfeinert und mit Rotwein gelöscht werden. In den Bistros der Bourgogne wird sie zu pochierten Eiern oder zu Burgunderbraten, dem berühmten „boeuf bourguignon“, gereicht.

Burgund, das ländlich geprägte Herz Frankreichs, erweist der Geschichte bis heute auf eindrucksvolle Art Reverenz. Orte wie Joigny oder Villeneuve-sur-Yonne bestehen fast zur Gänze aus Fachwerkbauten, die seit dem 16. Jahrhundert von Krieg, Revolution und Feuersbrunst verschont geblieben sind. In Auxerre erinnern bis auf zwei Getreidesilos keine Bauwerke an die Jetztzeit. Drei Kirchenkolosse bewachen die Einfahrt der Schiffe in die Stadt: die Kathedrale Saint-Etienne (11.–16. Jh.), die Abtei Saint-Germain (9.–18. Jh.) und die Kirche St. Pierre (11.–17. Jh.).

Ihr nacheinander einsetzendes Glockenspiel begrüßt die Hausbootfahrer, die auf der Yonne unterwegs waren. Sie sind frisch geduscht – der Strom hat sich während der Fahrt aufgeladen, ausnahmsweise gab's mal genug warmes Wasser – tragen gebügelte Hemden oder T-Shirts und haben die Flipflops gegen feste Schuhe getauscht. Erwartungsfroh spazieren sie Richtung Altstadt. Doch sie kommen nicht weit. Gleich nach der Brücke ankert die „Coche d'o“, auf der David Quillin sie schon mit einer Chablis-Verkostung erwartet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2010)

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