Präsident will in Rede an die Nation Vorschläge präsentieren. Besänftigung der "Gelbwesten" wird teuer.
Paris. Die französische Regierung hat kaum übertrieben, als sie das Land vor einer neuen Krawallrunde warnte und alle Bürger und Bürgerinnen mit oder ohne gelbe Warnwesten eindringlich ersuchte, nicht in die Hauptstadt zu kommen. Innenminister Christophe Castaner hatte sogar in dramatischen Tönen von einem „Monster, das seinen Erzeugern entwichen ist“, gesprochen. In der Tat erlebte Paris wieder ein schwarzes Wochenende, in gewisser Hinsicht noch schlimmer als eine Woche zuvor.
Auch wenn es den Behörden gelungen ist, im Verlauf des Samstagabends auf den Straßen und Plätzen wieder Herr der Lage zu werden, ist die Machtdemonstration der Polizei am Ende mehr ein Beweis der politischen Ohnmacht der Staatsführung, die bisher keinen Ausweg aus der Krise gefunden hat. Weder die Warnungen noch die Einschüchterungsversuche noch zahlreiche präventive Festnahmen haben Tausende von „Gilets jaunes“ davon abgehalten, in die Hauptstadt zu kommen, um auf der Avenue des Champs-Elysées gegen Präsident Emmanuel Macron zu demonstrieren. Der Präsident wird am Montagabend um 20.00 Uhr in einer Rede an die Nation sprechen, teilte der Elysee-Palast am Sonntagabend in Paris mit. Bei den Protesten der sogenannten Gelbwesten gegen die steigenden Lebenshaltungskosten wird immer wieder auch der Rücktritt Macrons gefordert
Die Polizei nahm bei Kontrollen den Gelbwesten nicht nur eventuell als Waffen einsetzbare Gegenstände weg, sondern auch einfache Atemschutzmasken oder Skibrillen zum Schutz vor Reizgas. Dutzende Personen wurden deswegen sogar den ganzen Tag in Gewahrsam gehalten. Das hat den Zorn noch gesteigert.
90.000 Polizisten und Gendarmen
Die offizielle Bilanz spricht für sich: 179 zum Teil schwer Verletzte und 1350 Festnahmen, mehr als hundert verbrannte Autos. Nicht nur die Kundgebungen in Paris endeten mit Straßenschlachten und Sachbeschädigungen durch Randalierer. Auch Demonstrationen in Provinzstädten wie Bordeaux, Marseille, Avignon, Lyon oder Dijon führten zu gewaltsamen Zusammenstößen. Dabei hatte die Regierung alles aufgeboten, was ihr an Personal und Material zur Verfügung stand – ohne zum äußersten Mittel eines Militäreinsatzes zu greifen. Die rund 90.000 Polizisten und Gendarmen, 8000 allein in der Hauptstadt, wurden mit Panzerfahrzeugen verstärkt, die dann auch eingesetzt wurden. Und im Verlauf des Samstagnachmittags galoppierten mitten in Paris berittene Polizisten gegen mutmaßliche Randalierer.
Auch erste Zugeständnisse der Regierung, die auf die ursprünglich für Anfang 2019 angekündigte Erhöhung der Treibstoffabgaben verzichtet und für ein paar Monate eine Verteuerung der Gas- und Stromtarife aussetzen will, haben den Großteil der Franzosen und Französinnen in Gelb überhaupt nicht zu besänftigen vermocht. „Wir wollen leben, und nicht einfach nur überleben“, sagten zu ihren Beweggründen gleich mehrere von ihnen auf der Champs-Elysées.
Tränengas und Lärmgranaten
Die Demonstrationen am Samstag waren zuerst ohne ernsthafte Zwischenfälle verlaufen. Dann zeigten nach den fast unvermeidlichen Provokationen die Ordnungskräfte ihre Muskeln. Sie verschossen aus allen Rohren Tränengas und Lärmgranaten und zielten dabei keineswegs immer nur auf die Randalierer. Am Tag danach bot Paris ein trostloses Bild.
Nun ist Präsident Macron am Zug. Er hatte bisher seinen Premierminister Edouard Philippe allein an die „Front“ geschickt und ihm damit die ganze Verantwortung für die Konfliktlösung aufgebürdet. Vermutlich auch mit dem Hintergedanken, seinen Regierungschef als Sündenbock dem Volkszorn zu opfern, wenn alles schief laufen sollte. Das ist eigentlich bereits der Fall. Jetzt kann Macron, der nur seine Truppen zu ihrem Ordnungseinsatz beglückwünscht hat, jedenfalls nicht länger schweigen.
Heute, Montag, oder spätestens am Dienstag wolle er in einer Rede an die Nation ein Gesamtpaket mit Vorschlägen vorstellen, berichteten französische Medien. Mit der Dauer und der Radikalisierung dieser unberechenbaren und unkontrollierbaren Bewegung der „Gilets jaunes“ ist der Preis für den sozialen Frieden massiv gestiegen. Die Reformpolitik und die Sanierung der Staatsfinanzen nach Maastricht-Kriterien drohen wie ein Kartenhaus einzustürzen. Auf der Strecke bliebe dabei auch die politische Glaubwürdigkeit des französischen Staatschefs in der EU.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2018)