Exklusiv für die „Presse am Sonntag“ schreibt Kardinal Carlo Maria Martini über Auswege aus der Krise nach den Missbrauchsfällen. Von abzuwerfenden Lasten der Tradition und vorgefertigten Antworten.
Martini: Nicht gegen den Zölibat
WIEN (red.). In einer Presseaussendung hat der ehemalige Mailänder Kardinal eine in der „Presse am Sonntag“ erschienene Bemerkung dementiert. In einem Text, der über Vermittlung des mit Martini befreundeten Jesuitenpater Georg Sporschill zur „Presse am Sonntag“ in deutscher Übersetzung gelangt war, hatte es geheißen: „Der verpflichtende Zölibat als Lebensform der Priester sollte überdacht werden.“
Martini hat nun erklärt, sein Satz „Occorrerebbe ripensare alla forma di vita del prete“ („die Lebensform der Priester zu überdenken“) sei falsch übersetzt worden und in Wirklichkeit so zu verstehen, dass Priester die Gemeinschaftseinbindung und Geschwisterlichkeit unter den Priester stärken müssen. Martini: „Ich bin sehr überrascht, dass mir ein Satz zugeschrieben wird, der nicht meinem Denken entspricht.“
„Die Presse“ schließt einen Übersetzungsfehler – der in der Tat gravierend wäre – nicht aus. Wir können aber dazu erst Stellung beziehen, wenn uns die italienische Originalfassung vorliegt. Die "Presse"-Redaktion
Was kann die Kirche tun, um künftig Missbrauch durch Gewalt und Sexualität zu vermeiden? Außer die Täter und die Opfer in den Blick zu nehmen und in die Therapie einzubeziehen, werden wir grundsätzliche Fragen stellen müssen, um verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen.
Wie kann die Kirche das Zusammenleben von Mann und Frau fördern, um der Zielsetzung – einem geglückten Familienleben – näher zu kommen? Der verpflichtende Zölibat als Lebensform der Priester sollte überdacht werden (laut einer Erklärung Martinis ist diese Formulierung ein Übersetzungsfehler. Richtig müsste es heißen: "Die Lebensform der Priester sollte überdacht werden"; damit sei nicht der Zölibat gemeint - siehe oben; Anm.). Die grundsätzlichen Fragen der Sexualität sind im Gespräch mit der heutigen Generation, mit den Humanwissenschaften und mit den Weisungen der Bibel neu zu stellen. Nur das offene Gespräch kann der Kirche wieder Glaubwürdigkeit geben, Fehlentwicklungen korrigieren und den Dienst der Kirche an den Menschen stärken.
Manche Last der Tradition muss abgeworfen werden, damit die biblische Botschaft von der Würde jedes einzelnen Menschen leuchten kann. In der schweren Zeit, wo die ganze Welt auf die dunklen Seiten der Kirche starrt, wollen wir den Blick auch erheben und schauen, wo Neues im Kommen ist. Es gibt heute in der Welt neue Orte der Fürsorge und der menschlichen Achtsamkeit. Wo blüht die Liebe auf, wo überrascht uns Gott durch das von ihm gewirkte Heil und durch Menschen, die es aufdecken? Die Verantwortlichen in der Kirche und die Älteren werden in Fragen des Zusammenlebens und in zentralen Lebensfragen ein hörendes Herz brauchen. Wenn wir hören, was die kommende Generation uns fragt, bevor wir unsere vorgefertigen Antworten geben, dann werden wir gemeinsam Wege in die Zukunft ausmachen. Wenn wir auf die Kinder schauen und gleichzeitig den Blick zu Gott erheben, wird uns jene übermenschliche Kraft geschenkt, die heute verlangt ist, damit die Wohlstandsgesellschaft Hoffnungskraft und Orientierung findet und die Kirche ihren Auftrag erfüllen kann, Licht für die Welt zu sein.
»Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde.«
Matthäus 18,6
Im jüngsten Hirtenbrief an die Kirche von Irland spricht Papst Benedikt XVI. mit großer Offenheit und Betroffenheit vom Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen durch Mitglieder und vor allem Verantwortliche der Kirche. Das Urteil des Heiligen Vaters ist sehr klar und hält sich an das Wort Jesu: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde.“ (Mt 18,6)
Diese Grenze zieht Jesus, nachdem er die Kinder in die Mitte gestellt und damit alle Kleinen und Hilfsbedürftigen der Kirche als Aufgabe anvertraut hat. Die Täter müssen die Verantwortung für das Unrecht übernehmen und sich der kirchlichen und weltlichen Rechtsprechung unterwerfen. Mit derselben Entschiedenheit fordert der Heilige Vater alles denkbare Bemühen um die Opfer, um die Wiedergutmachung, so weit möglich, und um die Heilung der Opfer, dann aber auch der kranken Täter. Entscheidend ist nun die Prävention, die die aktive Teilnahme der verschiedenen Generationen, Geschlechter und Fachleute verlangt.
Mit der Kirche in Österreich bin ich seit meiner Ausbildung im Jesuitenorden verbunden. Später haben mich die Begegnungen mit Kardinal König und die Freundschaft mit Mitbrüdern in der Jugendseelsorge besonders bewegt. Im vergangenen Jahr habe ich Fragen von Jugendlichen in Wien beantwortet und ihnen einen Brief geschrieben. Heute, wo unser Auftrag für die Jugend und der Missbrauch an der Jugend sich oft skandalös widersprechen, dürfen wir uns nicht zurückziehen sondern müssen neue Wege suchen.
Steckbrief
1927
Carlo Maria Martini wird in Turin geboren
1944
Beitritt zu Jesuiten
1952
Priesterweihe
1958
Promotion; Dozent
1978
Kanzler an der Gregoriana
1980
Weihe zum Erzbischof von Mailand
1983
Kardinal; er gilt als Papst-Kandidat
2002
Ruhstand; Studien in Jerusalem
2008
Die „Jerusalemer Nachtgespräche“ zwischen Martini und Pater Georg Sporschill erscheinen im Herder Verlag (142 S; 9,20€).
(Die Presse, Printausgabe, 28. 03. 2010)