Kein Oberhaupt der katholischen Kirche stand so im Kreuzfeuer. Benedikt XVI. lässt dies genauso ungerührt wie Forderungen nach Reformen: Weltweit steigt die Zahl der Katholiken und der Priester.
Zigtausende werden sich heute auf dem Petersplatz in Rom versammeln. Benedikt XVI. wird in glanzvollem Ornat mit schüchternem Gesichtsausdruck unter Applaus und Geleitschutz eines Heers von Kardinälen, Bischöfen, Priestern, Diakonen und Ministranten die Szenerie betreten. Pomp und Gloria der ältesten Organisation der Welt werden sich am Beginn der Karwoche, die mit dem Osterfest endet, in ihrer ganzen Pracht entfalten. Ein Palmsonntag wie jeder andere?
Ganz und gar nicht. Zu oft werden immer neue Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch Priester publik, jetzt auch in Italien. Zu sehr sieht sich der nach katholischem Selbstverständnis direkte Nachfolger von Petrus im Zentrum von Angriffen. Demonstranten vor dem Apostolischen Palast, Rücktrittsaufforderungen auch von Theologen, hämische Kommentare in Medien rund um den Globus: Es gibt keinen Papst, der zu Lebzeiten so sehr in der Kritik stand wie der schmächtige Deutsche. Auf ihn fällt nun jener Zentralismus zurück, den er selbst und sein Vorgänger bis zur Perfektion getrieben haben. Rom entscheidet oft unter Umgehung der Ortskirche und zieht alles an sich. Der Papst und er allein entscheidet. Theologische oder kirchenrechtliche Debatten werden abgewürgt. Roma locuta causa finita – Rom hat gesprochen, der Fall ist abgeschlossen. Jetzt wird eben auch der Papst für (Nicht-)Reaktionen auf Missbrauch verantwortlich gemacht. Noch dazu, da niemand so viele Fälle – wenn nicht auf seinem Schreibtisch so doch unter seiner Verantwortung – zu bearbeiten gehabt hat wie einst Kardinal Joseph Ratzinger als Chef der Glaubenskongregation.
Ist dieser Mann in Weiß nur noch zu einer Art Nachlassverwalter geworden? Könnte man gut meinen, wenn man in Europa lebt. God's own continent, das war einmal. Nirgendwo sonst geht die Zahl der Priester, Ordensleute und Messbesucher (so stark) zurück. Denn weltweit ist die Zahl der Priester zwischen 2000 und 2008 (für dieses Jahr gibt es die letzten Vatikanzahlen) zwar alles andere als steil, aber immerhin um ein Prozent auf 409.166 gestiegen. Auch die Entwicklung der Katholikenzahl ist für den Vatikan alles andere als besorgniserregend: Sie ist allein zwischen 2007 und 2008 um 1,7Prozent auf 1,17Milliarden gestiegen – rascher als die Weltbevölkerung (1,2 Prozent). Anders ist das Bild nur bei den Ordensfrauen, deren Zahl zwischen den Jahren 2000 und 2008 um 7,8 Prozent zurückgegangen ist. Aber es sind auch deutliche Unterschiede auszumachen: Afrika (plus 21,2 Prozent) und Asien (plus 16,4 Prozent) verbuchen deutliche Anstiege. Dennoch bleibt Europa privilegiert. Auf keinem anderen Kontinent ist die Betreuungsdichte höher: Hier sieht sich ein Priester nur 1.300 Katholiken gegenüber, in Afrika sind es hingegen 4.700.
In Kenntnis dieser Zahlen wird verständlicher, weshalb Benedikt XVI. Forderungen nach Reformen, die vor dem Hintergrund der Missbrauchsfälle mit neuer Vehemenz vor allem aus Deutschland und Österreich erhoben werden, ungerührt lassen – sofern sie ihn erreichen. Denn der 83-jährige Papst weiß, was er den Kardinälen schuldet, die ihn vor fast genau fünf Jahren so rasch wie deutlich gewählt haben. Reformen stehen nicht auf seiner Agenda. Auch wenn die Kontinentalkirchen auseinanderdriften. Auch wenn das Nichtverstehen der modernen Kultur (vor allem in Europa und Nordamerika) beträchtliches Gefahrenpotenzial birgt. Aber es ist schon wahr: Nachrichten vom Ableben der katholischen Kirche sind verfrüht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2010)