Nach dem Anschlag herrscht in Straßburg angespannte Ruhe. Der mutmaßliche Schütze ist weiter auf der Flucht. Die Polizei gab einen offiziellen Fahndungsaufruf mit einem Foto heraus, in dem sie die Bevölkerung um Mithilfe bat.
Straßburg. „Gemeinsam gegen die Barbarei“, steht auf dem Zettel geschrieben, den ein Mann zu den Blumen und flackernden Kerzen auf den Boden legt. Nach der Attacke haben Bürger in der Straßburger Altstadt improvisierte Gedenkorte eingerichtet. „Was für ein trauriger Tag“, sagt eine amerikanische Touristin, in deren Kurzaufenthalt der Anschlag geplatzt ist. „Ich selbst war kurz zuvor an dem Ort.“
Die Straßburger Altstadt mit ihren engen Gässchen ist überschaubar, heimelig, urig. Auf einem der vielen Weihnachtsmärkte im Zentrum hatte am Dienstagabend ein Mann auf Passanten geschossen. Zwei Personen starben, ein Mann gilt als gehirntot, mehr als ein Dutzend Menschen wurden verletzt.

Am Tag eins nach der Attacke liegt über der Stadt eine angespannte Ruhe. Das vom Fluss Ill umgebene Zentrum war wieder frei zugänglich. Sicherheitskräfte kontrollierten an den Altstadt-Brücken Taschen. Busse der Gendarmerie parkten auf Plätzen. Schwerbewaffnete Polizisten patrouillierten durch die Fußgängerzone. Man zeigte demonstrativ Präsenz. Die Poller, mit denen sich die Innenstadt vor Auto-Attacken schützen wollte, sind allesamt hochgefahren. Doch gegen einen Täter, der allein an den Tatort geht, konnten sie nichts ausrichten.
Die meisten sind ruhig und besonnen
Allgegenwärtig im Zentrum waren am Mittwoch die Kameras der TV-Teams, die den Place Kléber mit ihren Sendewägen in Beschlag genommen haben. Aber auch immer mehr Bewohner wagten sich am Nachmittag auf die Straßen. Touristen, in der Vorweihnachtszeit wegen Straßburgs Weihnachtsmarkt in großer Zahl in der Stadt, staksten durch die Straßen. Ein Gutteil der Geschäfte und Restaurants blieb jedoch geschlossen. Schulen waren geöffnet, allerdings war der Besuch freiwillig; viele Kinder blieben zu Hause. Und doch: Die Menschen machten einen ruhigen, besonnenen Eindruck. „Wir haben eine lange Geschichte mit dem Terror in Frankreich“, erklärte ein französischer Mitarbeiter des Europäischen Parlaments die hiesige Gemütslage.
Der mutmaßliche Attentäter, ein 29-Jähriger, war gestern weiter auf der Flucht. Es war nicht unmittelbar klar, ob er sich noch in Frankreich aufhielt oder nach Deutschland flüchten konnte. Er hatte sich nach dem Angriff eine Schießerei mit der Polizei geliefert und war verletzt worden.
Die Staatsanwaltschaft geht von einem terroristischen Hintergrund aus. Zeugen des Anschlags hätten den Angreifer „Allahu Akbar“ rufen hören, sagte der Pariser Antiterror-Staatsanwalt Remi Heitz. Angesichts des einschlägigen Zielorts, seiner Vorgehensweise und der Zeugenaussagen habe die Antiterrorabteilung der Pariser Staatsanwaltschaft die Ermittlungen übernommen. „Die Jagd geht weiter“, erklärte der stellvertretende Innenminister Laurent Nunez am Mittwoch dem Radiosender France Inter.
Cherif C. heißt der mutmaßliche Täter. Er hat nordafrikanische Wurzeln und ist in Straßburg aufgewachsen. C. fiel in der Vergangenheit mehrfach wegen kleinkrimineller Delikte auf und wurde wegen etlicher Diebstähle in Frankreich, der Schweiz und in Deutschland verurteilt. Nach dem Verbüßen der Strafe wurde er im Vorjahr aus Deutschland nach Frankreich abgeschoben. Cherif C. war aber auch den Geheimdiensten ein Begriff. Sein Name firmierte in der Sicherheitsakte „Fiche S“, einer Gefährderdatei. C. soll sich im Gefängnis radikalisiert haben. Die Behörden haben vier Personen aus seinem Umfeld in Gewahrsam genommen. Gefahndet wird auch nach dem Bruder des Tatverdächtigen.
„Anschlag auf den Frieden“
Im Europäischen Parlament gedachte man in einer Schweigeminute der Opfer des Attentats. Einen „kriminellen Anschlag auf den Frieden“, nannte Parlamentspräsident Antonio Tajani den Vorfall. „Wir stehen auf der Seite der Familien der Opfer.“ Er drückte Frankreich sein Mitgefühl aus, das mehrfach zum Ziel von Terrorattacken geworden ist. Die Kraft der Freiheit und der Demokratie gewinne jedoch gegen Gewalt, Verbrechen und Terrorismus, sagte Tajani. Das Parlament hielt seine Tagesordnung planmäßig ab, darunter auch die Verleihung des Sacharow-Preises (siehe Artikel unten). Im EU-Parlament ist gerade Sitzungswoche – Hunderte EU-Politiker sind in der Stadt, auch das eine Herausforderung für die französischen Sicherheitskräfte.
Märkte machen am Donnerstag auf
Am Mittwoch versuchte Straßburg wieder in den Alltag zurückzufinden – eine Übung, die gar nicht schlecht gelang. Nur die Weihnachtsmärkte in der Innenstadt waren komplett geschlossen. Wo sich sonst Menschen drängen, standen verwaiste Holzdörfer mit allzu fröhlichen Aufschriften und verbarrikadierten Tresen.
„Wir gedenken der Toten, daher haben wir geschlossen“, sagt ein Mann mit Zigarette im Mund und Wollmütze auf dem Kopf, der eine der Buden putzt. „Am Donnerstag“, sagt er und klopft auf Holz, „haben wir hoffentlich wieder geöffnet.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2018)