USA: Die „schwarzen Schafe“ wurden entfernt

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Nach den Missbrauchsaffären der letzten Jahre hat sich die katholische Kirche notgedrungen zur Aufklärung entschlossen. Erst jüngst hat jedoch ein Fall für Aufsehen gesorgt, in dem auch der spätere Papst involviert war.

Washington. Als Papst Benedikt XVI. vor zwei Jahren seine USA-Reise antrat, wartete eine heikle Mission auf ihn. Der Missbrauchsskandal, der im Jahr 2002 ausgehend von Boston von der Ostküste an die Westküste schwappte, hatte die katholische Kirche in ihren Grundfesten erschüttert und manche Diözese in den Bankrott getrieben. Im Laufe des Besuchs rang sich Benedikt mehrfach zu einer Entschuldigung durch. Und als er mehrere Opfer zum persönlichen Gespräch traf, machte er auch eine starke symbolische Geste, die viele versöhnlich stimmte.

Erst jüngst hat jedoch ein Fall für Aufsehen gesorgt, in dem auch der spätere Papst involviert war. Wie die „New York Times“ enthüllte, hatten die Bischöfe in Wisconsin die Glaubenskongregation im Vatikan und deren Chef Joseph Ratzinger vergeblich gedrängt, den Priester Lawrence Murphy aus dem Amt zu verstoßen. Der inzwischen verstorbene Kirchenmann hatte sich seit 1950 an mehr als 200 gehörlosen Buben vergangen. Nach seiner Versetzung aus einer Gehörlosenschule hatte er, gezeichnet von Alter und Krankheit, in einem Brief an Ratzinger um Gnade gefleht: „Ich möchte die Zeit, die mir noch verbleibt, in der Würde meines Priestertums verleben.“ Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die jahrzehntelange Praxis des Vertuschens und Verschleierns.

Reinigende Papstvisite

Der Jesuit Thomas Reese, Kirchenexperte an der Georgetown University in Washington, mag die Bedeutung der Papstvisite im April 2008 für die Erholung der Heimatkirche nach ihrer Krise indes gar nicht hoch genug einschätzen. Die katholische Kirche stehe heute wieder einigermaßen gut da, konstatiert er. Es sei zwar „erstaunlich bis schockierend“, dass laut einer Studie des Pew-Instituts ein Drittel aller in den USA getauften Katholiken die Kirche verlassen habe – beileibe jedoch nicht nur wegen der Missbrauchsaffäre.

Der Skandal hat wider Erwarten keine Austrittswelle ausgelöst. „Die Leute kehren der Kirche den Rücken, weil sie ihnen entweder schlicht zu langweilig ist oder weil sie mit ihrem Pfarrer über Kreuz liegen“, lautet seine Erklärung.

Die demografische Entwicklung mache den Aderlass allemal wett. Wegen der anhaltenden Immigration von Latinos – in überwiegender Mehrheit Katholiken – wächst die Zahl, übrigens ganz im Gegensatz zu den protestantischen Kirchen. Fast ein Viertel der US-Amerikaner, 68Milo. Menschen, bekennt sich zum Katholizismus. Und es ist nicht weiter verwunderlich, dass die katholische Kirche zu den vehementesten Fürsprechern einer Legalisierung der rund zwölf Millionen illegalen Immigranten gehört.

Überraschend kommt überdies eine Untersuchung zu dem Schluss, dass rund die Hälfte der Katholiken schon nach wenigen Jahren die Affäre völlig vergessen hat. In der öffentlichen Debatte spielt sie kaum noch eine Rolle.

Mittlerweile hat die US-Kirche die „schwarzen Schafe“ in ihren Reihen entfernt – ein Großteil ist ohnehin verstorben. Der Priester John Geoghan, dessen Fall den Stein ins Rollen gebracht hatte, wurde 2003 von einem Mithäftling erwürgt. Rund 100 Priester und Ordensleute wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Und auch die Bischöfe sind mit wenigen Ausnahmen wie Roger Mahoney, dem Kardinal von Los Angeles, nicht mehr im Amt. So wie seine früheren Amtskollegen Bernard Francis Law in Boston und Edward Egan in New York steht er am Pranger, „Schmuddelpriester“ gedeckt zu haben.

„Sicherster Ort“

Nach der Enthüllung des Skandals durch den „Boston Globe“ und seiner lawinenartigen Ausbreitung hat sich die Kirche nach anfänglichen Widerständen notgedrungen zur Aufklärung entschlossen. Seit 1950 sind mehr als 7000Missbrauchsfälle und 5000 Priester als Täter dokumentiert. Zuvor hat die Kirche die Missbrauchsopfer durch Schweigegeld ruhiggestellt.

„Es herrscht nun die Überzeugung, dass solche Fälle nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden“, sagt Reese. Zudem haben die Kirchenbehörden Maßnahmen getroffen, die eine Wiederkehr des Skandals verhindern sollen. Das Personal wird in Schulungsprogramme geschickt, Verdächtige werden umgehend bei der Polizei angezeigt und Neuzugänge in den Kirchendienst einer gründlichen Überprüfung unterzogen. Jesuitenpater Reese zieht daraus das Fazit: „Die Kirche ist heute wahrscheinlich sogar einer der sichersten Orte.“ Manche behaupten sogar, die Kirche sei zum Modell für öffentliche Schulen und Jugendarbeit geworden.

Die Zahl der Missbrauchsfälle ist tatsächlich signifikant zurückgegangen. Im Vorjahr haben sich laut einer Erhebung der US-Bischofskonferenz rund 400Opfer gemeldet, deren Missbrauch meist Jahrzehnte zurückliegt. David Clohessey, Sprecher des Opfernetzwerks, zweifelt die Angaben beziehungsweise die Umfragemethodik an: „Glaubt denn wirklich jemand, die in der katholischen Hierarchie tief verwurzelten, jahrhundertealten Muster der dem Selbstzweck dienenden Geheimniskrämerei und des Betrugs hätten sich plötzlich in ihr Gegenteil verkehrt, und dass die einst routinemäßig vertuschten, abscheulichen Verbrechen nun routinemäßig enthüllt werden?“

Die finanziellen Folgen haben die US-Kirche indessen hart getroffen. Mehr als zwei Milliarden Dollar haben die Diözesen und die Orden an Schadenszahlungen aufgewendet, davon fast ein Drittel in Los Angeles.

Bankrotte Diözesen

Mehrere Diözesen sowie zuletzt der Jesuitenorden im Bundesstaat Oregon sind in die Insolvenz geschlittert, kirchliche Institutionen haben einen Teil ihrer Liegenschaften veräußert. Allein in der Diözese Boston haben Dutzende Pfarren geschlossen. Im Vorjahr hat die Causa der US-Kirche erneut mehr als 100 Millionen Dollar gekostet. Für den Ökonomen Charles Zech steht fest: „Die Kirche kann sich das nicht mehr lange leisten.“

AUF EINEN BLICK

Von Boston aus ging 2002 die Welle an Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche durch die USA: Seit 1950 sind mehr als 7000 Fälle und 5000 Priester als Täter dokumentiert. Die Kirchenbehörden haben in der Folge entsprechende Maßnahmen getroffen: strenge Überprüfung von Neuzugängen, Schulungsprogramme, Anzeigen im Fall von Missbrauch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2010)

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