Das Jahr der (letzten) Chancen

Archivbild: Jahreswechsel in Wien
Archivbild: Jahreswechsel in Wien(c) imago/viennaslide
  • Drucken

2019 bietet eine historische Chance: Sowohl die Staatengemeinschaft als auch Österreichs Regierung könnten mit mutigen Entscheidungen ein wenig Geschichte schreiben.

Wer in der Endloswiederholungsschleife der seltsam ähnlichen TV-Sender zu später Stunde bei der seichten Liebeskomödie mit Sandra Bullock und Hugh Grant aus dem Jahr 2002 hängen blieb, hatte einen schönen Moment (gesellschafts-)politischer Verblüffung. Donald Trump spielt in „Ein Chef zum Verlieben“ den wenig sympathischen Donald Trump durchaus amüsant. Wer hätte gedacht, dass er 16 Jahre später US-Präsident sein würde. Die ganze Welt fürchtet weniger seine Macht denn seine Unberechenbarkeit. Sein jüngstes Manöver, die wenigen US-Truppen aus Syrien nach Hause zu holen und die kurdischen Verbündeten im Stich zu lassen, wird sowohl Erdoğan als auch Assad stärken.

Wobei manche Reaktionen eigentümlich klingen: War es nicht die Anmaßung der USA, sich als Weltpolizist zu gerieren, die so vielen missfiel? Trump sagt nun, genau dies nicht mehr tun zu wollen. Manch notorischer US-Kritiker müsste doch applaudieren? Im Ernst: Europa, oder besser: seine Staaten müssen 2019 endlich mit dem Lernprozess beginnen, militärisch auf eigenen Beinen zu stehen. Nur wenn Europa sich für Krisenherde vor seiner Haustür verantwortlich sieht und mit eigenen Truppen eingreift, ist die Union, ist der Kontinent ernst zu nehmen. Das bedeutet auch höhere Ausgaben für das Militär. Möglicher Nebeneffekt: Das Gejammer, Europa sei digital auf dem Abstellgleis, könnte enden. Es waren vor allem enorme Etats für das US-Militär, die die Forschung im Silicon Valley anstießen. Daran denken die Digitalträumer nur ungern.

Was Trump natürlich ungeniert verschweigt, ist die neue Rolle, die die USA immer intensiver und skrupelloser spielen: die des ökonomischen Weltpolizisten beziehungsweise des ökonomischen Weltdiktators. Waren manche Drohungen Trumps in Richtung der planwirtschaftlichen Subventionsökonomie der Chinesen, die mit neoliberalen Waffen kämpfen, noch verständlich, wissen wir mittlerweile: Trump geht es wie als Immobilienentwickler früher einzig um den Profit und die Verdrängung aller anderen. Im konkreten Fall für die USA und gegen alle anderen Länder. Wenn sich gegen diesen wirtschaftlichen Wild-West-Imperialismus keine Koalition der Europäer und Asiaten bilden lässt, wird es grimmig.

Das bedeutet mehr Mut in allen Staatskanzleien, speziell den international notorisch ängstlichen wie jener in Berlin. Wien ist da leider keine Ausnahme. Die Regierung propagiert zwar geschlossene Grenzen und will den Zustrom aus Kriegsregionen drosseln. Doch dass das Land und Europa das auch gegebenenfalls militärisch – mit friedenstiftendem Mandat – angeht, traut sich keiner auch nur anzudenken. Wir sind schließlich in der neutralen Komfortzone.

Apropos: 2019 ist das letzte Jahr, in dem aus drei Gründen echte Reformen in Österreich relativ leicht möglich wären. Noch ist die Regierung in allen Umfragen im Hoch, die Opposition im Tief. Noch sprudeln die Steuereinnahmen dank eines noch immer laufenden, aber vermutlich bald langsameren Wirtschaftsmotors. Und noch stehen keine Landtagswahlen in Serie vor der Tür, die in Österreich traditionell so viel Aufmerksamkeit genießen wie in Wien die Ballsaison. Doch dafür müssten Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache einen steinigen Weg beschreiten. Es ginge 2019 darum zu beweisen, dass die Regierung nicht nur populistisch auf Umfragen starrt, sondern wie bei der geplanten Steuersenkung das Land für künftige Generationen verbessert.

Eine wichtige Veränderung wäre: die dringend notwendige und für jedermann verständliche gesetzliche Koppelung des Pensionsantrittsalters an die statistische Lebenserwartung zu beschließen. Als die anfangs genannte TV-Schnulze produziert wurde, war Sebastian Kurz 16 Jahre alt. Vielleicht wusste er damals schon, dass er Kanzler werden wollte. Er wusste aber damals schon definitiv, dass eine solche Reform notwendig wäre. Nun wäre die Chance da, sie umzusetzen.

19 THESEN FÜR 2019

Zukunft. Was wird im kommenden Jahr passieren, welche Ereignisse werden uns beschäftigen? Die Ressorts der „Presse“ haben dazu 19 Thesen formuliert, die im ganzen Blatt am grünen Logo zu erkennen sind.

>> Die "Presse"-Thesen für 2019

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Werden Grasser und seine Mitangeklagten verurteilt?
Wien

Grassers großes Gerichtsjahr: Ein Urteil wird kein Ende sein


Das Korruptionsverfahren gegen den Ex-Finanzminister wird entschieden. Doch dieses Ende wird auch ein neuer Anfang sein.
Mit Birgit Hebein an der Spitze werden die Wiener Stadt-Grünen sicher weiter nach links rücken.
Wien

Rot-Grün ist trotz Reibereien vereint gegen den Bund

Michael Ludwig und Birgit Hebein müssen sich profilieren – das macht das Regieren nicht einfacher. Aber der türkis-blaue Feind eint.
Die Wiener Philharmoniker rufen eine eigene „Orchesterakademie“ ins Leben.
Klassik

Internationalität nach Noten und die Tradition


Vielleicht finden wir ja auch wieder die Möglichkeit, wienerisch auf die Pauke zu hauen.
Die Regierung wird 2019 ein neues ORF-Gesetz beschließen.
Medien

FPÖ und ÖVP bauen sich ihren ORF


Die Regierung wird 2019 ein neues ORF-Gesetz beschließen: Zur Diskussion stehen u. a. die Gebührenfinanzierung, der Alleingeschäftsführer und der Stiftungsrat.
Welche Politiker, welche Journalisten, welche Social-Media-Accounts erzählen Märchen? Und welche Märchen erzählen wir von uns selbst?
Medien

Das ist doch einfach nicht wahr!

Was lehren uns der Fall Relotius, Hannah Gadsby und die moderne Literatur? Wir dürfen Erzähltem nicht einfach trauen. Kommt nach dem Ende der Geschichte das Ende der Geschichten?

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.