Putin will Terroristen "aus dem Abwasserkanal zerren"

Moskau entdeckt Verantwortung
Moskau entdeckt Verantwortung(c) REUTERS (RIA NOVOSTI)
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Russlands Premier will hart gegen die Terroristen durchgreifen. Nach den Anschlägen erwarten die meisten Bürger eine solche Gangart und sind zum Verzicht auf Freiheiten bereit. Doch auch politische Konsequenzen werden gefordert.

Moskau. An und für sich sei es ja nicht nur schlecht, wenn die Börse nicht politisiert sei, meinte gestern, Dienstag, der russische Wirtschaftsexperte Maxim Blant: Aber, wenn der Ölpreis in den USA für die russischen Händler wichtiger sei als die blutigen Terroranschläge in der Moskauer U-Bahn, so illustriere dies doch den Reifegrad der russischen Gesellschaft. Während am Montag 39 Tote aus zwei U-Bahn-Stationen getragen wurden, stieg der Leitindex RTS um zwei Prozent. Und während am Dienstag noch 71 Verletzte in den Spitälern verblieben, war die Börse weiter in bester Laune.
So entkoppelt von den Ereignissen im Land sind die einfachen Bürger nicht.

Eine Mischung aus Trauer, Zorn und Unsicherheit lag am Dienstag über Moskau. Die Fahnen waren auf Halbmast, TV-Programme wurden ausgesetzt, die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Die Experten bleiben uneinig, ob der Doppelanschlag eine einmalige Aktion war oder der Auftakt zu einer neuen Serie von Selbstmordattentaten.

AUF EINEN BLICK

Nach dem Doppelanschlagvom Montag ist die Zahl der Todesopfer auf 39 gestiegen. Gestern war in Moskau Trauertag; die Sicherheitsvorkehrungen wurden verschärft. Noch hat sich niemand offiziell zu dem Anschlag bekannt.

Weil aber nordkaukasische Islamistenchefs als Hauptverdächtige geführt werden und diese schon vor den Anschlägen eine Ausweitung des Terrors angekündigt haben, herrscht erhöhte Alarmbereitschaft. Unter Verweis auf Sicherheitskräfte berichtete die Zeitung „Kommersant" von einem Pool von etwa 30 Selbstmordattentäterinnen, die ein kürzlich liquidierter Extremistenführer vorbereitet hat und von denen erst neun aktiv geworden seien.

Komplizen ausgeforscht

Die Fahndung nach den Drahtziehern lief jedenfalls auf Hochdruck. Laut Nachrichtenagentur Interfax habe der Geheimdienst FSB die Identität der beiden Attentäterinnen festgestellt sowie drei mutmaßliche Komplizen identifiziert.

Moskauer Metro

Die größte U-Bahn der Welt wird täglich von acht Millionen Menschen benutzt. Das Steckennetz umfasst 150 Stationen auf 241,6 Kilometern auf denen insgesamt 3900 Wagons verkehren. Zur Hauptverkehrszeit fahren die Züge im 82-Sekunden-Takt. Seit dem ersten Terroranschlag 1977 gibt es einen speziellen Sicherheitsplan für Terrorakte.

Wie beunruhigt die Bürger auch sind, am Ende wähnen sie das Land und die politischen Festen genauso wenig erschüttert wie der Aktienmarkt. Auch wenn die Anschläge teils als politische Niederlage des Führungstandems in der Terrorbekämpfung interpretiert werden, droht diesem doch kein Popularitätsverlust. „Nur eine Anschlagsserie wäre eine Herausforderung für die Staatsspitze", meint Alexej Graschdankin vom Meinungsforschungsinstitut Levada-Centre: „Was sinkt, ist das Vertrauen in die Sicherheitskräfte."
Das schrumpfte auch in den Zeiten der großen Terrorwellen vor fünf bis sieben Jahren. Zu personellen Konsequenzen führte dies aber nicht. „Das Volk fasste den Staat nach den wilden 90ern als schwach auf", meint Alexej Makarkin vom Moskauer Zentrum für Politische Technologie: „Deshalb waren auch die Ansprüche an ihn geringer."

Zumindest in einem aufgeklärteren Teil der Gesellschaft seien die Ansprüche in letzter Zeit gestiegen, meint Makarkin. Dazu hat auch Präsident Medwedjew beigetragen, der kürzlich hochrangige Beamte entließ und damit zumindest im Internet zivilgesellschaftliche Aktivität anfachte.

Die Frage personeller Konsequenzen wurde daher gestern in russischen Medien auffällig stark diskutiert. Den Rücktritt des Geheimdienstchefs, des Innenministers und des Moskauer Bürgermeisters forderte die Internetzeitung „Gazeta.ru": „Das wäre ein Signal fürs politische System, dass es oben einen Willen zu Veränderungen gibt." Und bezogen auf Medwedjew und Putin schreibt die Zeitung „Wedomosti": „In der jetzigen Machtkonstruktion verstehst du nicht, wer am Ende die Verantwortung trägt."

„Die Leute wollen so was hören"

Am Montag schlug Präsident Medwedjew einen harten Ton an und sprach von „Vernichtung der Terroristen". Dienstag legte Premier Wladimir Putin nach und sagte, für die Sicherheitskräfte sei es „eine Frage des Stolzes", die Macher des Terrors „aus dem Abwasserkanal ans Tageslicht zu zerren" - „Auch wenn das schon oft angekündigt wurde, die Leute wollen das jetzt wieder hören", sagt Makarkin. Graschdankin erwartet einen Wettbewerb zwischen beiden, wer die harte Rhetorik überzeugender rüberbringt.

Konfliktherd Nordkaukasus

Die Situation in Tschetschenien hat sich nach zwei verheerenden Kriegen in den vergangenen Jahren beruhigt. Dafür versinken nun die nordkaukasischen Republiken Inguschetien und Dagestan in Gewalt. So haben in Inguschetien Rebellen seit Mitte 2009 eine Serie von Anschlägen begangen. Die Islamisten kämpfen für ein von Moskau unabhängiges Kaukasus-Emirat.

Zuletzt wählte Medwedjew gerade in der Kaukasuspolitik einen weicheren Zugang. Putin indes hatte frühere Terrorwellen dazu genutzt, bürgerliche Rechte stark zu beschneiden. „Zwei Drittel des Volkes sind auch jetzt bereit, auf weitere Freiheiten zu verzichten", sagt Graschdankin: „Im Tausch gegen Wohlstand und Sicherheit."

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2010)

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