Michel Houellebecqs Hohelied: "Serotonin"

Neuerdings Ritter der Ehrenlegion – und noch immer Urtyp seiner Antihelden, die alle bezwungene abendländische Männer sind: Michel Houellebecq.
Neuerdings Ritter der Ehrenlegion – und noch immer Urtyp seiner Antihelden, die alle bezwungene abendländische Männer sind: Michel Houellebecq.(c) APA/AFP/EDUARDO MUNOZ ALVAREZ (EDUARDO MUNOZ ALVAREZ)
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In Houellebecqs Roman "Serotonin" kündigt sich ein Kindermord nur an, der Schocker ist ein anderer: der Held als Christusfigur.

Seit wenigen Tagen ist Houellebecq ein Ritter – ein Ritter der französischen Ehrenlegion. Dieser so lang als Enfant terrible beschimpfte und gefeierte Autor hat damit den einst von Napoleon geschaffenen höchsten Orden seines Landes bekommen.

Ein viel älterer Ritterbund hätte dem 62-Jährigen vielleicht noch besser gefallen. Ein Jugendfreund des Protagonisten im Roman „Serotonin“ führt seine Vorfahren bis auf einen Gefährten von Richard Löwenherz, einen Kreuzritter, zurück. Dessen Nachfahre Aymeric d'Harcourt-Orlonde versucht nun in der Normandie vergeblich, als Rinderzüchter die familiäre Scholle oder auch nur seine Familie zu erhalten. Seine Frau rennt ihm mit einem weltreisenden Pianisten davon, er verfällt dem Alkohol. Schließlich sprengt er mit anderen Desperados der französischen Landwirtschaft auf der Straße Maschinen in die Luft: Es gibt ein Massaker.

Aymeric ist, wie die Hauptfigur selbst, eine neue Variante des bezwungenen abendländischen Mannes, der Houellebecqs Romane so prägt. Bezwungen wird er nicht nur vom sinnlosen Leben an sich. Auch durch den Verlust des Metaphysischen, die Liebestöter Materialismus und Individualismus, die dem natürlichen Egoismus keine Schranken setzen. Bezwungen wird seine Kultur (wie in „Unterwerfung“) durch die muslimische, die kraft der Religion stärker ist. Bezwungen wird er, wie in „Serotonin“, durch den Freihandel und einen Staat, der seine nationalen Interessen, seine Bürger nicht schützt. Europa begehe kulturellen Selbstmord, sagte Houellebecq zuletzt öfters – es steht wortwörtlich schon in seinen ersten Büchern.

Die Ehefrau aus dem Fenster werfen?

In „Serotonin“ erzählt der Mittvierziger Florent-Claude im Rückblick seine Geschichte. Das Antidepressivum Captorix hat ihm die Libido geraubt. Seine Ehe mit der fast 20 Jahre jüngeren Japanerin Yuzu ist auch so am Ende. Nachdem er auf ihrem Computer Sexvideos mit ihr gefunden hat, erwägt er kurz, sie aus dem Fenster zu werfen – beschließt dann aber, stattdessen spurlos zu verschwinden. Daraus wird schließlich eine Tour zu ehemaligen Geliebten, die ihn auch zum bereits erwähnten Jugendfreund Aymeric führt. Die Erzählung davon verschmilzt mit Rückblicken auf sein früheres Leben.

Ja, der Autor hat sie noch drauf, die alles hinwegfegenden zynischen Sager (hier etwa über eine biobewusste Pariser Mittelschicht). Aber sie wirken ein bisschen wie Pflichtübungen, oft klingt es, als zitierte Houellebecq sich selbst. Überhaupt hebt der Roman lang nicht ab, wirkt langatmig und müde. Erst im Lauf der Erinnerungsreise gewinnt die Geschichte an Fahrt. Man merkt: Der zynische Aphorist Houellebecq hat sich endgültig erschöpft. Stark wird „Serotonin“, wenn es um echte menschliche Beziehungen des Protagonisten geht: jene etwas triste zu seinem Jugendfreund Aymeric; und seine große Liebe, Camille.

Wirklich neu aber ist im Houellebecq'schen Universum die Reue. Immer schon wurden dessen Helden vom Leben gebrochen, immer schon von einer Gegenwart, die sie Gegenorte suchen ließ – Thailand, die Zukunft, die Vergangenheit . . . Von ihrer eigenen Schuld: das kaum. Florent-Claude hingegen plagt das Gewissen angesichts von Aymerics Misere, weil er als Landwirtschaftsexperte einst eine Strategie ausarbeiten sollte, um die normannischen Käsesorten  Pont L'Eveque und Livarot international bekannt zu machen; er ließ sie versanden. Vor allem aber empfindet er „moralische Qualen“, weil er zwei Mal wirkliches Liebesglück erlebt und es durch eine Affäre zunichtegemacht hat. Über den zweiten Verlust, Camille, kommt er nicht hinweg.

Doch Florent-Claude startet einen letzten Versuch, Camille wiederzugewinnen. Wie wenig es Houellebecq hier um Realismus geht, zeigt schon der Ort, an dem er Camille ausfindig macht und heimlich beobachtet: Es ist ein Fantasieort, ein Topos der Zivilisationskritik: Camille lebt auf dem Land, in der Nähe des Kreuzritter-Nachfahren Aymeric, inmitten von Tieren wie er (sie ist Tierärztin) – in einem einsamen Waldhäuschen. Doch es gibt ein anderes entscheidendes Hindernis: Camilles vierjähriger Sohn, der nicht von Florent-Claude ist und mit dem sie in einer symbiotischen Beziehung lebt.

Fast würde „Serotonin“ hier doch noch auf einen Schocker hinauslaufen. Die Schusswaffe hat sich schon bei Aymeric als Trost des verzweifelten Mannes erwiesen, hier wird sie zum Anschlag gebracht. Doch es bleibt beim Schreckschuss an den Leser. Houellebecqs Männer sind zu schwach oder zu menschlich, sie können jedenfalls nicht morden, allerhöchstens sich selbst.

Wenn es einen Schocker gibt, dann eher danach, auf den letzten Seiten. Der Durst nach Liebe, identisch mit wahrer sexueller Erfüllung – in „Serotonin“ wird er zum reinen Hohelied der menschlichen Liebe; diese zum Gottesbeweis; der Verrat daran persönliche Schuld. In einer der kuriosesten Passagen schilt der Protagonist Marcel Proust und Thomas Mann Verräter. Diese Geistesgipfel der zwei höchstentwickelten europäischen Nationen hätten sich „vor jedweder feuchten jungen Muschi oder jedwedem beherzt aufgestellten Schwanz niedergeworfen“ (hier verwendet Houellebeq das religiös konnotierte „prosterner“). Damit hätten sie das Ende der „gesamten Kultur“ eingeleitet.

Als Verräter sieht sich auch Florent-Claude. „Ich hätte eine Frau glücklich machen können . . . Wir hätten die Welt retten können, und wir hätten sie in einem Augenblick retten können“, sagt er im Tonfall religiöser Verkündigung. Er und die Menschen rund um ihn hätten dem Zeitgeist nicht folgen brauchen, seinen „Illusionen von individueller Freiheit, von einem offenen Leben, von unbegrenzten Möglichkeiten“. Die rettende Insel erscheint also möglich – auch hier und jetzt in Europa. Sie geschieht durch eigene Tat, doch es gibt sogar eine Art Erlöser. Florent-Claude wird in den letzten Sätzen zum Märtyrer der Liebe, zu einer neuen Christusfigur, die die Menschen vom „endurcissement des cœurs“ abbringen will, von der Verhärtung der Herzen.

Bis zum langsamen Tod an Liebeskummer aber ist Florent-Claude ein Gläubiger: einer, der „gegen alle Hoffnung voll Hoffnung“ glaubt, wie Houellebecq mit Paulus sagt. Das unterscheide, heißt es im Roman, den Lebendigen von dem, der nie gelebt hat oder leben wollte. Eine Frohbotschaft? Nicht wirklich. Gegen alle Hoffnung hoffnungsvoll lieben ist eine Qual – auch das macht „Serotonin“ klar. Sterben ist leicht dagegen.

HOUELLEBECQS BISHERIGE ROMANE

„Extension du domaine de la lutte“ (1994, „Ausweitung der Kampfzone“), „Les particules élémentaires“ (1998, „Elementarteilchen“), „Plateforme“ (2001, „Plattform“), „La possibilité d'une île“ (2005, „Die Möglichkeit einer Insel“), „La carte et le territoire“ (2010, „Karte und Gebiet“), „Soumission“ (2015, „Unterwerfung“).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2019)

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