Torbergs Sekretärin: Mit dem "Engerl" im Cabriolet

Jausenbrote für „Herrn Anekdoteles“: Ursula Kals-Friese.
Jausenbrote für „Herrn Anekdoteles“: Ursula Kals-Friese.(c) Schroeder
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„Ich hatte so ein Glück, mit einem so fantastischen Menschen so lange arbeiten zu können.“ Ursula Kals-Friese, 18 Jahre lang Sekretärin Friedrich Torbergs in Altaussee, über aufgeplatzte Würstel, Otto Moldens Krawatten und das „Sodom und Gomorrha“ von Alpbach.

Vom ersten Tag an nannte er mich ,Engerl‘. Er hat 18 Jahre lang ,Engerl‘ zu mir gesagt.“ Es war im Sommer 1961, als die damals 21-jährige Ursula Kals-Friese in Alpbach Friedrich Torberg zum ersten Mal traf. Vier Sommer lang hatte sie als Sekretärin des jeweiligen Präsidenten des Österreichischen College, des späteren Europäischen Forums Alpbach, gearbeitet. „Ich bin in der Nacht von einer Tanzerei zurückgekommen, und da saß der Torberg im Büro. Marietta, seine Frau, kannte ich seit vier Jahren, aber ihn nicht“, erinnert sie sich. Friedrich Torberg, der 1951 aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt war, erzählte ihr in jener Nacht, dass er ein Haus in Altaussee gemietet habe und eine Sekretärin suche, die mit ihm dorthin gehen würde. Für Ursula Kals-Friese, die nach dem Sommer in Tirol auf keinen Fall nach Wien zurückgehen wollte, war es die Erfüllung ihres Traums, weiterhin auf dem Land zu leben und zu arbeiten. Nur, „es waren ja ganz andere Zeiten“, sie musste noch ihren Vater um sein Einverständnis bitten.

Ihr Vater hatte 1956 das Wiener Traditionsrestaurant „Zum Schwarzen Kameel“ übernommen. Seine Tochter Ursula hatte er auf die Sacré-Cœur-Privatschule in Pressbaum geschickt, wo sie nebst Etikette Französisch lernte. Nach dem Schulabschluss erlaubte er ihr, an der Universität in Cambridge das „Certificate of Proficiency“ (Fähigkeitszeugnis) in Englisch abzulegen. Und, wie sie Marietta Torberg erfreut berichtete, war ihr Vater auch damit einverstanden, dass sie mit Torberg nach Altaussee ging. Allerdings stellte die 21-Jährige eine Bedingung: „Ich war ja erst 18, als ich das erste Mal in Alpbach arbeitete, ich hatte das Glück, großartige Leute wie Arthur Koestler, Aldous Huxley und Manès Sperber kennenzulernen. Sperber war übrigens sehr, sehr ernst. Doch ich fand dieses Sodom und Gomorrha in Alpbach schrecklich – der mit der und die mit dem, da hat kein Mensch drauf Rücksicht genommen, wer mit wem verheiratet war. Ich kam ja von einer Klosterschule, da durfte man nur mit einem Hemd bekleidet in die Badewanne steigen. Nackt sein war ,unkeusch‘. Jedenfalls sagte ich zur Marietta, ich gehe nur mit, wenn es keine Affäre wird.“ Marietta Torberg winkte lachend ab: „Nein, nein, wenn der Torberg arbeitet, dann arbeitet er.“

Ende September 1961 fuhr Ursula Kals-Friese mit einem Dreimonatsvertrag in der Tasche nach Bad Aussee. Friedrich Torberg holte sie am Bahnhof ab. Aus drei Monaten sollten 18 Jahre werden.
In der Loserstraße, in einem typisch Altausseer Holzhaus, sitzt Ursula Kals-Friese in der Küche an einem alten Bauerntisch, ihrer „Kommandozentrale“, und blättert in Erinnerungen. Die weißen Haare zu einem Knoten gebunden, in einem roten, knöchellangen Dirndl mit blau gemusterter Schürze, zündet sich die heute 79-jährige eine Zigarette an und fängt an zu erzählen; manchmal hält sie gerührt inne. „Bei uns hat der Geschichtsunterricht ja 1918 aufgehört. Wir hatten keine Ahnung, was danach kam. Torberg hat mir von Peter Altenberg bis Stefan Zweig all diese Schriftsteller und ihre Bücher nähergebracht. Er war auch ein wunderbarer Mentor.“

„Ein Körberl mit Punkten“

Seine zahlreichen Briefe diktierte Torberg ihr täglich, sie stenografierte mit und tippte sie dann auf ihrer Schreibmaschine ab. Bevor die Briefe auf dem Postamt aufgegeben wurden – er bevorzugte das Briefpapier, auf dem der 1958 verliehene Professorentitel nicht im Briefkopf stand –, kontrollierte Torberg sie noch einmal streng. Besonders genau war er in Sachen Interpunktion. „Einmal vergaß er mir die Satzzeichen anzusagen, und ich dachte mir, was wird mit diesen Briefen sein. Aber er sagte nur: ,Engerl, ich war heute im Dorf und wollte für Sie ein Körberl mit Punkten, Beistrichen und Fragezeichen kaufen, aber ich habe nirgends eins gefunden.‘“

Ursula Kals-Friese erinnert sich auch an die zahlreichen Korrespondenzen, die ihrerseits mit einfallsreichen Wortspielen glänzten; so adressierte Milan Dubrović seinen Freund Torberg als „Hochgeschätzter Herr Anekdoteles“. Torberg erzählte seinem „Engerl“ auch während der Arbeit immer wieder Anekdoten. „Auf den letzten Seiten der Stenoblocks habe ich mir immer Notizen gemacht, für mich waren sie ein unwiederbringliches Wunder.“ Manche dieser Blocks liegen noch heute in der Loserstraße im Keller. Auch über seine Großeltern mütterlicherseits, die Bergs, kannte Torberg eine Anekdote, an die sie sich erinnert: „Die Bergs hatten acht oder neun Kinder. Wenn die Kinder laut waren oder stritten, sagte die Oma Berg zu ihrem Mann, einem Fleischhauer aus Ungarn: ,Hättest du nicht gescheiter noch eine Salami machen können?‘“

Ursula Kals-Friese glättet ihre Dirndlschürze: „Es war eine tolle Zeit. Ich hatte so ein Glück, mit einem so fantastischen Menschen so lange arbeiten zu können.“ Friedrich Torberg schrieb seine Bücher bekannterweise am liebsten nachts, „mit Bleistift auf gelblichem Papier“. Ursula Kals-Friese nahm die Manuskripte mit und tippte auch diese ab – von seinen Überarbeitungen der Herzmanovsky-Orlando-Texte über die Kishon-Übersetzungen bis hin zu seinem letzten Buch, „Die Erben der Tante Jolesch“. Über Politik sprachen sie in all den Jahren kaum, auch nicht über sein Zerwürfnis mit Hilde Spiel. Aufbewahrt hat sie trotzdem ein Zeitungsinterview mit Felix de Mendelssohn, dem Sohn Hilde Spiels, in dem dieser erzählt, seine Mutter habe auf die Frage, wem sie im „Nachleben“ begegnen wollte, gesagt: Friedrich Torberg. „Sie hat Torberg sicher noch gern gehabt.“

Nachmittags fuhren Torberg und Ursula Kals-Friese oft in seinem Cabriolet durch die Landschaft, um am Grundlsee beim Schraml-Toni Saiblinge, seine Lieblingsspeise, zu essen. „Es machte ihm so große Freude, mir alles zu zeigen. Er war so stolz, ich kannte das ja alles nicht. Er hat auch manchmal über seine Zeit in Amerika gesprochen. Im Exil hatte er immer nur Sehnsucht nach Altaussee, nicht nach Europa.“
Sie lebte gerade ein paar Tage in Altaussee, es war Anfang Oktober 1961, da ging Ursula Kals-Friese zum See: „Es war so unbeschreiblich schön, der Dachstein und die Trisselwand spiegelten sich im Wasser; die Ahorne leuchteten rot, die Lärchen goldgelb. Ich stand da wie verzaubert und sagte ganz laut: ,Lieber Gott, da möcht ich bleiben, und wenn ich einen Rauchfangkehrer heiraten müsste.‘ Das war mir so das Konträrste.“ Kaum ein Jahr später, im Fasching 1962, auf dem „Lumpenball“, lernte sie Bruno Kals kennen, einen Bergarbeiter, der 37 Jahre lang im Altausseer Salzbergwerk arbeitete, davon 30 Jahre unter Tage. Ihre Familie war nicht begeistert. Vor allem ihr Vater war, gelinde gesagt, skeptisch. „Mein Vater war schon immer ein alter Fürstenkraxler – immer nur Thurn und Taxis, der Ernstl Coburg und Hermann von Rittershausen und der ganze Clan. Dabei leben die Salzbergwerkarbeiter seit Jahrhunderten hier, haben hier ihre Felder, ihre Häuser.“

Friedrich Torberg verstand sich von Anfang an gut mit Bruno Kals. Nachdem das inzwischen verheiratete Paar das Haus in der Loserstraße gebaut hatte, war er oft zu Gast, um mit ihnen Sport im Fernsehen zu schauen, da er selber keinen Apparat hatte. „Er ist aus seinem Cabriolet ausgestiegen, ich bin ihn begrüßen gegangen, dann hat er immer gesagt: ,Engerl, zurückfahren müssen aber Sie.‘ Er war nämlich kein guter Autofahrer.“ Vier Jahre nach der Hochzeit kam auch Ursula Kals-Frieses Vater mit den beiden Kindern aus seiner zweiten Ehe zu Besuch – und entschuldigte sich. Bruno Kals ging mit den Kindern Skifahren. Ihre Halbgeschwister, Peter Friese und Martina Walli, sind heute die Betreiber des „Schwarzen Kameel“.

Wenn Torberg mit dem Auto nach Wien fuhr oder auf Vortragsreise ging, richtete Ursula Kals-Friese ihm immer Proviant her, „damit er sich unterwegs stärken konnte“. Die eingewickelten Jausenbrote beschriftete sie. Einst hatte sie von Torberg kochen gelernt. Einfache Speisen wie Würstel oder Eierspeise. „Denn ich habe die Würstel immer ewig gekocht, da sind sie zerplatzt.“ In Torbergs Abwesenheit arbeitete Ursula Kals-Friese unter anderem als Reiseleiterin, als Dolmetscherin und für Charles Wassermann, den Sohn des Schriftstellers Jakob Wassermann, der lange Jahre eine Villa in Altaussee gemietet hatte. Als eines Tages Torberg von einer Reise zurückkam und andeutete, dass er in der nächsten Woche Arbeit für sie habe, antwortete sie ihm, sie könne noch nicht zusagen, da komme eventuell ein Franzose dazwischen. Seine Antwort: „Engerl, das ist nicht das Schlechteste.“ Wie Torberg auf den Kosenamen „Engerl“ kam, weiß sie bis heute nicht: „Vielleicht hatte er vorher schon ein Engelein . . .“

Den Kontakt zu Einheimischen habe Torberg selten gesucht. Ausnahmen waren Klaus Maria Brandauer und die Malerin Christine Kerry, eine weitläufige Verwandte des ehemaligen US-Außenministers John Kerry, die zehn Jahre lang mit Fritz von Herzmanovsky-Orlando verlobt war. Sie wurde eine enge Freundin. Im Lauf der Jahre gehörten viele Juden, die aus der Emigration zurückkamen, zu Ursula Kals-Frieses Freundeskreis; manchen hat sie geholfen, für Verwandte auf dem Altausseer Friedhof eine letzte Ruhestätte zu finden.

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