Lateinamerika: Wo der liebe Gott noch anwesend ist

Lateinamerika liebe Gott noch
Lateinamerika liebe Gott noch(c) APA (GEORG HOCHMUTH)
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Hier hat der Klerus mehr Macht und Einfluss auf die Politik als andernorts. Nur wenige Missbrauchsfälle sind bekannt – auffallend wenige.

"Er begann, mich zu berühren. Er versuchte, meinen Mund zu küssen, aber ich drehte den Kopf weg, mir wurde speiübel. Er zog mir das Hemd aus, die Hose, und dann begann er sich selbst zu entkleiden.“

Der junge Brasilianer Fabiano beschreibt, wie ihn der Pfarrer seines Ortes missbrauchte. „Unzählige Male passierte das“, sagte er dem TV-Sender SBT. Nun ermittelt die Justiz im Bundesstaat Alagoas gegen den Priester Luíz Marques Barbosa. Dem 82-Jährigen wurde zum Verhängnis, dass einer seiner Übergriffe von einer versteckten Kamera gefilmt wurde. Die Bilder verbreitete SBT im ganzen Land. Zwei andere Priester, die der Sender als Päderasten denunzierte, wurden wie Barbosa von ihren Pfarren entfernt und müssen sich einer kanonischen Untersuchung stellen, sagte Federico Lombardi, der Sprecher des Vatikans. Bisher leugnen sie alle Anschuldigungen.

Gerüchte um deutschen Pater

Kardinal Geraldo Majella Agnelo, Erzbischof von Bahia, hatte vor zwei Jahren bestätigt, es gebe „vereinzelt“ Missbrauchsfälle in Brasilien. Welche er meinte, blieb unklar. Meinte er den deutschen Pater und Chorleiter Hans Bönisch, der sich in Bahia um die Barockmusik verdient gemacht hat, und um den seit Jahren Gerüchte kursieren?

Die Missbrauchs-Schlagzeilen etwa aus Irland, Deutschland und Österreich haben jedenfalls auch den katholischsten Kontinent alarmiert. Alle großen Medien Lateinamerikas berichten über die dunklen Wolken über dem Heiligen Stuhl und die Worte des Papstes und seiner Getreuen; die meisten beschränken sich aber darauf, Fälle aus Europa zu referieren.

In Lateinamerika ist der Aufdeckungseifer schwächer: So soll es etwa in Kolumbien (42 Mio. Bewohner) nur einige wenige Fälle gegeben haben, so Juan Vicente Córdoba, Chef der Bischofskonferenz des Landes. Der konservativen Zeitung „El Tiempo“ erklärte er: „In Kolumbien ist das Problem geringer als in den Staaten der Ersten Welt, wo Gott abwesend ist.“

„Sie taten es aus Nächstenliebe“

Tatsächlich gilt „das Land des geheiligten Herzens“ als katholische Hochburg, wo es Tradition war, dass Missbrauch von den Bischöfen gedeckt wurde, was Córdoba rechtfertigt: „Sie taten Schlechtes, aber nicht aus Schlechtigkeit, sondern aus christlicher Nächstenliebe zu ihren Priestern“, sagte er am Palmsonntag. „Stellen Sie sich einen Vater vor, der einen pädophilen Sohn hat und gefragt wird: ,Haben sie ihn angezeigt?‘ Natürlich nicht, denn es ist ja der Sohn. Wir sollten nicht vergessen, dass Pädophilie eine Krankheit ist, und dass die Kirche nicht aus Engeln, sondern aus Sündern besteht.“

Der hohe Klerus Lateinamerikas steht fest an Roms Seite und an jener der herrschenden Klassen des Kontinents. Hier laufen die Dinge noch wie eh und je, anders als in der „gottlosen“ Ersten Welt. Das sieht auch der Soziologe von der Universität Buenos Aires, Fortunato Mallimaci: „In Europa und Nordamerika akzeptieren nicht mehr alle Bischöfe den blinden Gehorsam gegenüber Rom, anders als in Lateinamerika, Afrika oder Asien.“

Verurteilt, aber weiter frei

In Argentinien etwa hat die Kirche sehr große Bedeutung und Einfluss auf Politik und Justiz. Mallimaci verweist auf den im Dezember wegen Übergriffen an einem Priesterseminaristen zu acht Jahren Haft verurteilten Exbischof von Santa Fé, Edgardo Storni, oder den Priester und Waisenhausleiter Julio César Grassi, der im Vorjahr wegen Missbrauchs zu 15 Jahren verurteilt wurde. Beide sind weiter frei, Grassi lebt sogar noch mit Kindern zusammen. „Wenn die Justiz nicht kann oder will, werden weitere Anzeigen eher unwahrscheinlicher“, so Mallimaci.

Einige Bischöfe ermuntern Opfer, Missbrauchsfälle anzuzeigen. So nannten die Sprecher der Bischofskonferenz Mexikos Übergriffe Geistlicher „abscheuliche Verbrechen“ und baten Bischöfe und Priester, den Behörden keine Steine in den Weg zu legen.

Die klaren Worte reflektieren den Skandal um einen der prominentesten Geistlichen Mexikos: Marcial Maciel Degollado, Gründer der ultrakonservativen „Legionäre Christi“. Er hatte jahrzehntelang mehr als 40 Minderjährige missbraucht. Aus parallelen Beziehungen mit Frauen gingen mindestens drei Kinder hervor, die teils behaupten, vom morphiumsüchtigen Maciel missbraucht worden zu sein. Als 1997 Opfer auftraten, walzte die mächtige Legion mit ihren exzellenten Kontakten alle Proteste nieder. Dennoch gelangten die Vorwürfe zum damaligen Leiter der Glaubenskongregation in Rom: Kardinal Joseph Ratzinger konnte lange nichts tun, denn Papst Johannes PaulII. protegierte Maciel, der die Mexikoreisen des Pontifex organisiert hatte. 2004 feierte der Papst mit Maciel dessen 60.Jubiläum als „vorbildlicher“ Priester.

2005 gab Ratzinger eine Untersuchung über die Übergriffe Maciels in Auftrag, 2006 befahl er, gerade Papst geworden, ihm den Rückzug aus der Öffentlichkeit; 2008 starb Maciel. Erst kürzlich entschuldigten sich die Legionäre Christi für die Untaten ihres Gründers: „Wir bedauern es zutiefst, dass diese Dinge geschehen sind.“

Bischof, Vater und Präsident

Wenn auch in Lateinamerika wenig aus den Kirchen nach außen dringt, wird im Volk umso mehr über die Geistlichkeit gelästert. Im Hinterland, wo die Kirche noch im Dorf steht, gelten andere Regeln als in Rom. Die Padres, die eine Geliebte und/oder Kinder haben, sind aber oft in der Gemeinde gut gelitten und kommen deswegen kaum in die Klemme.

Paraguays Präsident, Fernando Lugo (59), etwa war von 1994 bis 2005 Bischof von San Pedro – und zeugte mit einer 16-Jährigen einen Sohn. Weitere Vaterschaftsklagen sind anhängig. Der Popularität des Armenbischofs schadete das nicht: Man war in der Gemeinde auf das „Mannsbild“ im Talar stolz. Erst als Lugo auf seine Bitte hin vom Papst in den Laienstand versetzt wurde, um zur Präsidentenwahl 2008 anzutreten, hieß es, man habe Lugo auch wegen seiner nicht-zölibatären Lebensweise laisiert.

Pädophilie als Kavaliersdelikt?

Mit seiner Sexualethik allerdings kommt der Papst speziell in Brasilien wenig an: Im Karneval regnet es Präservative vom Himmel. Und Pädophilie gilt, glaubt man Schlagertexten, als Kavaliersdelikt. Da kann der frühere Erzbischof von Rio, Dom Eugenio Sales, in seiner Zeitungskolumne wettern: Über die Entschuldigung des Papstes für die Übergriffe auf Minderjährige schrieb er nichts. Dazu herrscht weitgehend Schweigen; wohl auch, weil die Gesellschaft offenbar vieles hinnimmt.

LEXIKON

Süd- und Mittelamerika sind ob der Kolonisierung durch Portugal und Spanien massiv katholisch (mehr als 80Prozent der circa 580 Millionen Bewohner). Ausnahmen sind britische und holländische Ex-Kolonien, etwa Guyana, Belize und Surinam, wo Protestanten, Hindus und Moslems überwiegen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2010)

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