Der Brexit als Beispiel für das Irrationale in der Politik

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Wie kommt es dazu, dass die Gefühlswelt ein ganzes Land und dessen Politik einnimmt und Argumente keinen Wert mehr haben?

Es war der 25. April 2016. Theresa May, damals noch Innenministerin, legte in einer Rede am Institut of Mechanical Engineering ihre Position zum Brexit-Referendum dar. Es war eine Rede voll Vernunft und Abwägung. Sie erklärte Vor- und Nachteile eines EU-Austritts. Sie wies auf ein Missverständnis in der gesamten Debatte hin. Dass nämlich eine „totale Souveränität“ als Einzelstaat gar nicht möglich sei. Sie erinnerte an das Römische Reich, an die Sowjetunion, das ehemalige britische Empire sowie die USA und argumentierte, dass es auch diesen nicht gelingen konnte, alles nach ihrem eigenen Willen zu gestalten. Und sie hat detailgenau aufgearbeitet, wie die EU-Mitgliedschaft zwar die Souveränität teilweise einschränkt, aber in den Bereichen Sicherheit, Handel und Wirtschaft die Interessen Großbritanniens besser bedient als ein Sonderweg abseits.

Theresa May wollte damals den Brexit nicht, sie wurde Premierministerin, akzeptierte das Votum des Volkes und versuchte den Balanceakt, ihr Land ohne großen Schaden aus der EU herauszuführen. Auch ihr Vorgänger David Cameron wollte den Brexit nicht, hatte im Wahlkampf aber versprochen, ein EU-Referendum abzuhalten, um seine eigene gespaltene Partei zu befrieden. Allein dass zwei führende Politiker politisch anders gehandelt haben, als sie es selbst für vernünftig gehalten haben, illustriert die verkorkste Situation.

Das Schicksal der beiden zeigt aber auch, wie es ab einem gewissen Punkt in einer breiten öffentlichen Debatte unmöglich wird, rationales Handeln durchzusetzen. Nämlich, sobald der Strudel von Stimmungen und Gefühlen zu stark geworden ist. Jene, die stattdessen mit persönlichen Empfindungen spielen und sie bedienen – wie etwa Boris Johnson oder Nigel Farage –, können viel leichter ihre Themen setzen als jene, die zu differenzieren versuchen. Den Satz „Die Stimme der Vernunft ist leise“ hat schon Sigmund Freud geprägt. Im Fall des Brexit blieben diese leisen Töne seit bald zwei Jahren im Hintergrund. Ob Freud damit recht behält, dass sich letztlich der Intellekt durchsetzt, weil er „nicht ruht“, bleibt ein letzter Hoffnungsschimmer. Derzeit sieht es nicht danach aus.

Eine Premierministerin, die keine andere Wahl mehr hat, als ihren ausgehandelten Brexit-Deal zu verteidigen, den sie gar nicht wollte, ein Unterhaus, das sich gegen diesen Deal stellt, obwohl es eigentlich mehrheitlich ganz etwas anderes – nämlich den Verbleib in der EU – präferiert hat, das taktische Spiel der oppositionellen Labour-Partei, der es gar nicht mehr um eine Lösung geht, sondern bloß um die Rückkehr an die Macht: Das ist eine politische Gemengelage, in der mit großer Wahrscheinlichkeit vor allem einer verliert, der Souverän. Nicht die Vernunft, sondern das Irrationale – oder besser gesagt: der Mangel an verantwortungsvoller Übersicht hat Chancen zu siegen.

Das britische Beispiel führt uns drastisch vor Augen, wie eine schlichte Vision von der Komplexität eines Problems ablenkt. Wie der überbordende Stolz auf das eigene Land zur völligen Fehleinschätzung über den Einfluss der eigenen Nation mutieren kann. Oder anders erklärt: Was hier geschieht, zeigt auf, wie leicht es ist, Ängste vor äußeren Einflüssen in die Illusion der eigenen Stärke zu verwandeln. Allerdings nur, indem alles andere ausgeblendet wird: die europäische Geschichte, die wirtschaftlichen Prognosen und sogar die ersten erlebbaren Einschnitte in das tägliche Leben durch Währungsschwankungen und Arbeitsplatzabbau.

Der Wunsch, sich die Welt selbstherrlich so zu gestalten, wie man möchte, ungeachtet der eigenen Entbehrungen und der erwartbaren Einsamkeit, das ist eigentlich eine Schwäche, die Menschen nach der Pubertät ablegen sollten. Es gibt jedoch populäre Politiker, die mittlerweile auch Erwachsene zu dieser - ursprünglich hormonell bedingten - Egozentrik verführen. Dass diese Politiker nicht nur in Großbritannien immer mehr Gehör finden, sagt weniger über sie als über unsere Gesellschaft aus. In ihr gedeiht – wie in der Pubertät – eine latente Unzufriedenheit, die nicht fassbar und nicht mehr mit rationalen Argumenten steuerbar ist.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2019)

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