Gallisches Dorf

Mit der Müllpolizei gegen den Plastikmüll?

(c) Marin Goleminov, Presse
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Mehr als 900.000 Tonnen Kunststoffabfall fallen in Österreich jährlich an. Das Umweltbundesamt prognostiziert einen weiteren Anstieg um zehn Prozent bis 2021. St. Valentin in Niederösterreich möchte diesen Entwicklungen nicht mehr tatenlos zusehen und macht mobil gegen Plastik.

„Ganz ohne Plastik geht’s nicht“, entfährt es Anita Binder, Verkäuferin im Feinkostladen in St. Valentin (Bezirk Amstetten), angesprochen auf die neue Resolution in ihrer Heimat. Durch die im Gemeinderat einstimmig getroffene Entscheidung „zur Vermeidung von Einweg-Plastik“ soll sich in Zukunft einiges verändern im Ort an der Grenze Nieder- zu Oberösterreichs. In anderen Worten: Der Plastik-Abfall muss schnell weniger werden.

Österreich produzierte im Jahr 2015 laut Umweltbundesamt über 900.000 Tonnen Plastikmüll. Bei einer Bevölkerungszahl von 8,67 Millionen Menschen sind das nach den aktuellsten Zahlen 106 Kilogramm Kunststoffabfall pro Person und Jahr. Auf St. Valentin in Niederösterreich mit knapp 10.000 Einwohnern entfallen damit in etwa 1000 Tonnen Plastikmüll pro Jahr. Für 2021 wird ein österreichweiter Anstieg um zehn Prozent auf eine Million Tonnen Plastikmüll prognostiziert. Um diesen zunehmenden Abfallzahlen entgegenzuwirken, hat die Stadtgemeinde im September 2018 eine Resolution zur „Plastikfreien Gemeinde“ verabschiedet.

Vorfreude und Skepsis in der Bevölkerung

Während Anita Binder über die Bedeutung der Resolution für ihre Kunden nachdenkt, sortiert sie ihre Lebensmittelregale. „Manchmal braucht es einfach ein Plastiksackerl“, ist sie der Meinung. „Viele unserer Kunden kommen zum Spontaneinkauf und haben keine Stofftasche dabei.“ Allgemein reagieren in der Stadtgemeinde Vorfreude und Bereitschaft, aber auch Skepsis. Auffällig ist, dass einige Menschen von den plastikfreien Zukunftsplänen ihrer Heimat noch nichts gehört haben.

(c) Matthias Führer

Kerstin Suchan-Mayr, SPÖ-Bürgermeisterin in St. Valentin und treibende Kraft für eine plastikfreie Gemeinde, schreckt vor Skepsis und Unwissenheit nicht zurück. Sie möchte den aktuellen Klimakatastrophen entgegenwirken und ist überzeugt die Menschen St. Valentins mit ihrem Projekt mitzureißen: „Aktuell sind wir nur ein kleiner Tropfen auf dem heißen Stein. Unser Tropfen wird aber größer werden.“ Suchan-Mayr will mit St. Valentin helfen, den österreichischen Müllverbrauch zu reduzieren.

Einweg-Plastik als Bruchteil des gesamten Müllaufkommens

Bei einem Blick auf die neuesten Zahlen des Gesamtabfallaufkommens Österreichs aus dem Jahr 2016 erscheinen die vom Umweltbundesamt ausgewiesenen 916.360 Tonnen Plastikmüll gering. Gering deshalb, weil das Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus (BMNT) 62 Millionen Tonnen Abfall dokumentiert. 4,27 Millionen Tonnen werden dem Bereich „Siedlungsabfälle aus Haushalten und ähnlichen Einrichtungen“ zugerechnet. Ein Drittel des gesamten Kunststoffabfalls ist Teil dieser Menge. Des Weiteren setzt sich Siedlungsabfall unter anderem aus üblichen Fraktionen wie Restmüll, Sperrmüll, biogenen Abfällen, Altpapier, Glas oder Metall zusammen.

Wird von diesen Siedlungsabfällen ausgegangen, ist das Ziel in St. Valentin mit der Vermeidung von Einweg-Plastik sehr eng, aber deswegen nicht minder ambitioniert gesteckt, betont Suchan-Mayr. Knapp 300.000 Tonnen des Kunststoffabfalls sind dem Bereich Verpackung zuzuordnen. „Einweg-Plastik nehme ich nur mit nach Hause, um es dort wieder wegzuschmeißen“, erklärt die Bürgermeisterin. Für sie haben folierte Gurken oder Kunststoffverpackungen über Paradeisern keine Funktion. Hier gilt es Alternativen für eine konstruktive Müllvermeidung aufzuzeigen. Durch Papiertaschen mit dem Aufdruck „ich liebe plastikfrei“ soll die Bevölkerung sensibilisiert werden.

(c) Matthias Führer

Suchan-Mayr: „Einweg-Plastik ist überall vermeidbar“

Jeder Österreicher produziert im Durchschnitt 488 Kilogramm Siedlungsabfall pro Jahr. Wien liegt mit 487 Kilogramm pro Person ebenso wie die meisten Bundesländer nahe am österreichweiten Durchschnitt. Einzig Vorarlberg und Kärnten bewegen sich mit 370 bzw. 401 Kilogramm Abfall pro Person deutlich unter dem Durchschnitt. Am oberen Ende des Aufkommens steht Niederösterreich mit 539 Kilogramm pro Person.

Müllentsorgung und Sammelsysteme funktionieren in Österreich von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Ein Einfluss auf Müllproduktion sowie Gewohnheiten der Menschen sei dadurch gegeben, sagt die Bürgermeisterin. „Einweg-Plastik ist aber überall in Österreich vermeidbar, egal wo“, ist Suchan-Mayr trotzdem überzeugt. In St. Valentin hat sie deshalb zur Reduktion des Plastikmülls den Gelben Sack eingeführt. „Im Gelben Sack kann jetzt jeder Haushalt seinen Plastikmüll getrennt sammeln. Das führt zu einer gewissen sozialen Kontrolle in der Nachbarschaft.“ In der Grundausstattung wurde jedem Haushalt eine Rolle mit 13 Säcken zu je 110 Litern Fassungsvermögen zugestellt. Sind diese aufgebraucht, kann am Gemeinde- oder Stadtamt eine neue Rolle mit sechs Säcken abgeholt werden.

Anita Binder sieht das nicht ganz so positiv. „Der Gelbe Sack ist ein Blödsinn“, sagt sie. Nur alle sechs Wochen werde dieser vom Gemeinde Dienstleistungsverband Region Amstetten für Umweltschutz und Abgaben (GDA) abgeholt. Reinigt man seinen Plastikmüll nicht ordentlich, fange er in der Wohnung an zu stinken. Außerdem müsse jeder Einwohner St. Valentins unabhängig von der Müllmenge das Gleiche bezahlen.

Plastik aus Bequemlichkeit

Coffee-to-go-Becher, Wasserflaschen, Take-Away-Mittagessen und die Plastiksackerl beim Lebensmittel- sowie Kleidungseinkauf. Laufend greifen die Menschen in ihrem Alltag auf Einweg-Plastik zurück. „Zweimal pro Tag rennt dieser Mann mit einem Plastikbecher aus dem Kaffeehaus. Dann hat es mir irgendwann gereicht und ich habe ihm einen biologisch abbaubaren Mehrwegbecher geschenkt“, erzählt Radomir Kovacic. Er betreibt seit über einem Jahr den Tante Hanna Laden in St. Valentin.

(c) Matthias Führer

„Ein Vorzeigeprojekt zur Vermeidung von Müll und besonders Plastik“, das auch die Bürgermeisterin zu schätzen weiß. Die Produkte im Lebensmittelgeschäft sind unverpackt, biologisch und regional. Kovacic will dem Plastik keinen hohen Stellenwert zuschreiben. „Die Menschen brauchen kein Plastik. Sie wollen es im Prinzip auch nicht.“ Zumeist stehe ihnen jedoch ihre eigene Bequemlichkeit oder der Handel im Weg.

Im Kaffeehaus nebenan werden schon längst keine Zeitungen und Zeitschriften mehr gelesen, denn kaum jemand bleibt hier sitzen. Der Grund dafür ist einfach erklärt: Kaffee zum Mitnehmen koste einfach weniger, weil weder Wasser noch Service zu zahlen sei, erklärt die Verkäuferin. Was der Kunde will, wird ihm geboten, unabhängig ökologischer Bedenken. So auch im Fall des jungen Mannes. „Nach nur zwei Tagen ist er schon wieder mit seinen Einweg-Bechern herumgelaufen“, weiß der enttäuschte Unverpackt-Laden-Besitzer Kovacic.

Untätiger Handel

„Was mich überrascht hat ist, dass das Thema plastikfreie Verpackungen noch niemand besetzt hat“, meint Suchan-Mayr. Durch die Resolution sei die Chance für Unternehmen jetzt groß. Sie ist davon überzeugt, dass diese von der medialen Berichterstattung profitieren und sich eine Brandmarke im Nachhaltigkeits-Bereich setzen können. Als Beispiele nennt sie „die Wolfnudeln, welche in Papier verpackt werden oder den Kosmetik- und Waschmittelproduzenten Perovit, mit dem wir gerade in intensivem Kontakt für plastikreduzierende Lösungen stehen“.

Wie die großen Supermarktketten im Ort reagieren werden, ist noch nicht absehbar. Die ersten Gespräche mit Spar und Billa sind konstruktiv verlaufen, heißt es von der Bürgermeisterin. Zur Resolution verpflichten kann die Gemeinde den Handel nicht. Suchan-Mayr will Handelsunternehmen und Betriebe gleichwohl wie Bürger und Vereine mit auf ihren Weg nehmen.

In der Resolution vom 27. September steht dazu Folgendes geschrieben: „Unternehmen in St. Valentin sollen motiviert werden, sich aktiv an der Aktion zu beteiligen und auf die Ausgabe von Einweg-Plastik wie beispielsweise Plastiksackerl, Einweg-Kaffeebecher und Verpackungen aus Plastik zu verzichten.“ Gelingen soll das mit „dem verbindlichen Charakter“ der Resolution. Durch diesen offiziellen Beschluss erwartet sich Suchan-Mayr mehr Engagement, als es bei persönlichen Briefen an die jeweiligen Unternehmen gewesen wäre.

WC-Papier aus Bambus

Der Tante Hanna Laden trägt jedenfalls zur Abfallvermeidung St. Valentins bei. Mit mittlerweile über 500 Produkten produziert Kovacic keinen Plastikmüll mehr. Sowohl Produkte wie Kunden werden stetig mehr. Über unverpacktes Obst und Gemüse, Milch und Joghurt im Glas oder ökologisch nachhaltige Deos und Naturseifen ist hier so ziemlich alles erhältlich. Auf sein rollenweise zu erwerbendes WC-Papier aus Bambus ist der Betreiber besonders stolz, auch wenn er weiß, „dass der Transportaufwand durch die CO2-Emissionen der Containerschiffe für diese Alternative aus Asien momentan noch ein Wahnsinn ist“.

(c) Matthias Führer

Viele Einwohner St. Valentins wollen ebenfalls nicht mehr warten, um etwas gegen die Plastikflut zu unternehmen. Dieter Schlager spaziert mit seinem Einkaufskorb durch die Straßen. „Mein Korb ist einfach bequemer.“ Er unterstützt die neue Resolution sehr und ist bereit seinen Teil dazu beizutragen. „Zu Hause hilft mir der Sodastream. So brauche ich nie wieder Einweg-Plastikflaschen für kohlensäurehaltiges Wasser zu kaufen.“

Plastikmüll reduzieren – in St. Valentin und ganz Österreich

In St. Valentin will man nicht nur durch Motivation und guten Willen auffallen. Die Stadtgemeinde lässt sich in Zukunft auch an Zahlen messen. Im vergangenen Oktober wurde vom GDA eine Abfallsammlung durchgeführt. 16.380 Tonnen Leichtverpackungen aus Kunststoff haben sich über den Zeitraum von sechs Wochen in den Gelben Säcken angesammelt. Im Sommer soll dieser Ausgangswert als erste Prüfmaßnahme dienen. „Das große Ziel ist, den Plastikmüll bis 2021 um 50 Prozent zu reduzieren,“ sagt Suchan-Mayr. Eine eigene Müllpolizei zur Kontrolle der Abfälle werde sie aber nicht einführen.

Bis dahin sollen sich, wenn es nach der Bürgermeisterin geht, möglichst viele Gemeinden in ganz Österreich St. Valentin zum Vorbild nehmen. Marchtrenk und Waidhofen an der Ybbs haben die Resolution bereits im Gemeinderat beschlossen, viele weitere sollen folgen.

Türkis-blaue Regierung in der Pflicht

Suchan-Mayr hat ihre Ideen und Maßnahmen bereits im Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus vorgestellt und platziert. „Man kann nur mehr Maßnahmen in diesem Bereich erwarten. Was aktuell passiert, ist sicher nicht darauf bedacht unsere Umwelt zu schützen oder die Erde weiterhin lebenswert zu gestalten.“ Ministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) hatte erst unlängst ein komplettes Verbot der Plastiksackerl im Handel für 2020 angekündigt.

Als Politikerin sei es Suchan-Mayr ein Anliegen, im Sinne der Menschen zu handeln und zu bedenken wo und wie viele Arbeitsplätze dahinterstecken. Als Hindernis im Kampf gegen das Plastik möchte sie diese nicht sehen. „Ich will Möglichkeiten finden, Arbeitsplätze in anderen Bereichen zu schaffen.“ Damit könne den Menschen und dem Planeten gleichzeitig geholfen werden. Vielleicht werden auch Anita Binder aus dem Feinkostladen oder viele andere Bewohner St. Valentins in zwei Jahren anders denken, wenn die Bürgermeisterin erste Erfolge feiern will.

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