Theresa May erlebte mit ihrem Brexit-Deal eine historische Parlamentsniederlage. Schon am Mittwoch geht es um ihr politisches Überleben.
London. Am Ende wurde das Unvermeidliche Wirklichkeit. Mit einer historischen Mehrheit von 432 zu 202 Stimmen lehnte das britische Unterhaus am Dienstag die Vereinbarung zwischen der Regierung und der EU über den Austritt des Landes aus der Union ab. Premierministerin Theresa May reagierte auf ihr Debakel nicht nur ungerührt, sondern auch gut vorbereitet: Sie rief die oppositionelle Labour Party dazu auf, den lange angekündigten Misstrauensantrag zu stellen. Labour-Führer Jeremy Corbyn erhob sich umgehend und brachte einen entsprechenden Antrag ein. Die Abstimmung wird bereits am Mittwoch stattfinden: „Diese Regierung hat vollkommen versagt“.
May erklärte in ihrer Reaktion, das Abstimmungsergebnis schaffe „keine Klarheit, wie es nun im Brexit-Prozess weitergehen soll“. Sie brauche nun zuerst das Vertrauen des Unterhauses. Danach werde sie mit der konservativen Fraktion und der nordirischen DUP, der Mehrheitsbeschafferin ihrer Regierung, die nächsten Schritte beraten. Sollte sich dabei eine mehrheitsfähige Lösung abzeichnen, werde sie mit der EU in Kontakt treten, ehe das britische Parlament über einen neuen Antrag zu entscheiden haben würde. „Ich habe immer gesagt, dass ich einen geordneten und vereinbarten Austritt aus der Europäischen Union anstrebe“, bekräftigte sie.
Die Abstimmung
JA-Stimmen: 202
Konservative: 196
Labour: 3
Unabhängige: 3
NEIN-Stimmen: 432
Labour: 248
Konservative: 118
Schottische Nationalpartei: 35
Liberaldemokraten: 11
Nordirische Unionisten (DUP): 10
Unabhängige: 5
Walisische Regionalisten (Plaid Cymru): 4
Grüne: 1
May führt seit Juni 2017 eine konservative Minderheitsregierung, die auf die nordirische DUP angewiesen ist. Gemeinsam haben sie 327 der 650 Sitze im Unterhaus. Das Abstimmungsergebnis bedeutet, dass nicht nur wie angekündigt die Opposition und die DUP, sondern auch 118 der 317 Konservativen gegen die Vorlage ihrer eigenen Regierungschefin stimmten. Eine Niederlage mit 230 Stimmen Unterschied hat eine britische Regierung seit 1924 nicht erlitten.
Corbyn will Referendum vermeiden
Dass es zu dem Misstrauensantrag Labours kommen würde, stand bereits vor der Abstimmung fest. Corbyn sprach kaum über den EU-Deal, sondern holte vielmehr zu einem Rundumschlag gegen die Regierung aus. Es gilt dennoch als wahrscheinlich, dass das Parlament heute May das Vertrauen aussprechen wird. Konservative und DUP wollen zwar zu einem erheblichen Teil das EU-Abkommen nicht. In ihrer Ablehnung von Corbyn sind sie aber geschlossen. Wenn die Oppositionspartei ihren Misstrauensantrag verliert, wird die Forderung nach einer neuen Volksabstimmung Parteilinie. Diese will aber Parteichef Corbyn ebenso um jeden Preis vermeiden wie May.
In ihrem letzten Appell vor der Abstimmung verteidigte May noch einmal ihr Abkommen als einzig mögliches Modell, „den Auftrag des Volkes, den wir in der Volksabstimmung 2016 erhalten haben, umzusetzen“. Sie erteilte einem harten Brexit, bei dem Großbritannien die EU zum Stichtag 29. März ohne Vereinbarung verlässt, eine bisher stets vermiedene deutliche Absage: „Während ich nicht sage, dass unser Land nicht auch unter diesen Umständen erfolgreich sein kann, wäre es alles andere als das beste Resultat.“ Ebenso verwarf sie Forderungen nach einem neuen Referendum: „Dieses Haus muss den Willen des Volkes umsetzen.“
Angesichts der Turbulenzen in London verlautete aus Brüssel, dass sich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zwar für sofortige Gespräche bereithält. Auch er wolle einen ungeordneten Ausstieg verhindern, doch gebe es keine Möglichkeit, den Deal substanziell zu verändern. In London wurde hinter den Kulissen von Plänen berichtet, wonach nun Beamte zum Zug kommen sollen. Unter Federführung von Mays Brexit-Chefverhandler Olly Robbins sollen Spitzenbeamte sechs Vorschläge ausarbeiten und ausloten, welcher davon im Parlament eine Mehrheit gewinnen könnte.
Das Ausmaß der Niederlage Mays könnte nun die Karten neu mischen. Hält ihr das Kabinett die Treue? Wird sie das Handtuch werfen? Kann sie gestürzt werden? Einige Minister machen aus ihrem Streben nach dem ersten Amt in der Regierung schon lange kein Geheimnis mehr. Aber wer möchte nun der Brutus sein? Oder zum Befreier werden? Klar war, dass auch ein Wechsel in der Downing Street das Grundproblem nicht lösen kann: Es gibt nur Mays Deal, die EU hat Neuverhandlungen ausgeschlossen und in Großbritannien gibt es keine mehrheitsfähige Position. Die einzige Mehrheit hat gestern May organisiert: gegen ihr Abkommen.
Bis Montag Zeit für einen Plan B
Das Parlament hat bereits für ein Scheitern des Deals angeordnet, dass die Regierung nun innerhalb von drei Sitzungstagen dem Unterhaus einen Plan B vorlegen muss. Der letzte mögliche Termin ist der kommende Montag. Will die Regierung eine Verlängerung des Brexit-Verfahrens, braucht sie die Zustimmung der EU, wo sich die Geduld mit den störrischen Briten spürbar dem Ende nähert. May bekräftigte nach der Abstimmungsniederlage, dass die Regierung „diese Vorgabe respektieren“ werde.
Der weitere Fahrplan
In ihren letzten Worten vor dem Votum appellierte May an die Abgeordneten: „Das ist die wichtigste Entscheidung, die wir in unserer gesamten politischen Karriere treffen werden.“ Niemand konnte ihr vorwerfen, nicht bis zur letzten Sekunde gekämpft zu haben.16.1. (Mittwoch): Angekündigtes Misstrauensvotum der oppositionellen Labour-Partei gegen die britische Premierministern Theresa May (20 Uhr)
21.01.: Premierministerin May will ihren Plan B vorlegen - vorausgesetzt, sie übersteht das Misstrauensvotum.
31.01.: Spätestens sieben Sitzungstage später - also am 31. Jänner - muss die Regierung über den Plan B abstimmen lassen. Die Abgeordneten könnten den Plan B ändern und eine engere Anbindung an die EU fordern oder sogar ein zweites Referendum.
29.03.: An diesem Tag um 23.00 Uhr britischer Zeit tritt das Vereinigte Königreich aus der Staatengemeinschaft aus - falls der Brexit nicht auf Wunsch Großbritanniens verschoben wird.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2019)