Tschetschenien: Widerstand und Todesschwadronen

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Nach den blutigen Anschlägen in der Moskauer U-Bahn droht in Russland weiterer Terror. Wie der islamistische tschetschenische Widerstand und seine Todesschwadronen funktionieren - Analyse eines Insiders.

Am 29.November 2001 trug sich in Urus-Martan, einer Stadt mit rund 51.000 Einwohnern in der Mitte Tschetscheniens, eine Geschichte zu, an die man sich in Tschetschenien bis heute erinnert. Die 20-jährige Aminat Magomadowa versteckte Sprengstoff unter ihrem schwarzen Kleid, ging zur russischen Militärkommandantur, schrie „Allahu Akbar!“ („Gott ist groß“) und stürzte sich auf General Gejdar Gadschijew. Sie wurde zerfetzt, der General starb.

Aminats Bekannte erzählen, dass ihr Mann, Ruslan Magomadow, einige Monate davor von Gadschijew zu Tode gefoltert worden sei. Ruslan hatte im ersten Tschetschenien-Krieg (1994–96) gekämpft, war aber, wie viele andere Tschetschenen, amnestiert worden. Allein: Gadschijew verdächtigte den Tschetschenen, auch im zweiten Krieg (1999–2001) Kontakte zu Rebellen unterhalten zu haben. Weil der sich nicht zu Unrecht selbst bezichtigen wollte, starb er unter Folter – ohne Gerichtsverfahren.

Rückzug in die Selbstopferung.Aminats Versuche, bei Staatsanwaltschaft oder Administration eine Bestrafung des Generals zu erwirken, schlugen fehl. Damals hatten die Militärs die unkontrollierte Macht in Tschetschenien. Plötzlich, erinnern sich Bewohner von Urus-Martan, habe die Witwe zu klagen aufgehört und sich zurückgezogen. Selbst Nachbarn nahmen keine Notiz mehr von ihr. Der Wandel erklärte sich mit dem Einfluss der Islamisten, auch Wahhabiten genannt, die die Witwe zum Selbstmordattentat vorbereiteten. Von der Scharia des bewaffneten Untergrunds nämlich war der Russengeneral zum Tode verurteilt worden. Und weil Aminat Rachegefühle hatte, kam sie den Islamisten wie gerufen.

Aminat war die erste Selbstmordattentäterin. Und eröffnete jene Reihe von Attentaten, deren zwei jüngste vorigen Montag in der Moskauer U-Bahn 40 Menschenleben forderten. Eine Attentäterin, Dschennet Abdurachmanowa, war erst 17 Jahre alt, die zweite nur wenig älter.

Was Aminats Attentat im Jahr 2001 betrifft, muss man festhalten, dass es im Kaukasus eher begeistert aufgenommen als verurteilt wurde. Bald tauchten neue Attentäterinnen auf: Nach der Ermordung des Tschetschenen-Warlords Arbi Barajew, dessen Neffe Mowsar 2002 die Geiselnahme im Moskauer Musicaltheater „Nordost“ leitete, riss seine Witwe mit einem sprengstoffbeladenen Lkw zehn Milizionäre in den Tod. Beim größten Anschlag im Dezember 2002 in Grosny drang ein Sprengstoff-Lkw zum gut bewachten Regierungsgebäude vor. 100 Sicherheitsleute und Beamte starben.


Wenn die schwarzen Witwen kommen.
Seither griffen die Rebellenchefs immer öfter zu diesem Mittel. In die Vorbereitung von Selbstmordattentäterinnen kam Regelmäßigkeit. Vor allem junge, kinderlose Witwen und Verwandte von Opfern russischer Militärs werden gern rekrutiert. Suggeriert wird schnelle Rache. So hatte etwa der bekannte Terrorist Schamil Bassajew ein Bataillon namens „Gärten des Paradieses“ von abrufbereiten Attentätern.

Instruiert werden solche Leute von arabischen Ausbildnern unter den Rebellen. Sie versprechen das Paradies. Vor einiger Zeit wurden in Tschetschenien drei Jugendliche aufgegriffen, die dafür ausgebildet wurden. Republikpräsident Ramsan Kadyrow selbst verhörte sie. Zu Propagandazwecken wurde das Verhör in allen TV-Kanälen gezeigt:

„Warum wolltest du dich in die Luft sprengen?“, fragte Kadyrow.

„Man sagte mir, dass ich ins Paradies komme“, antwortete einer der drei Burschen.

„Wer hat das gesagt?“

„Die Araber Mohdan und Jasir.“

„Und warum hast du nicht vorgeschlagen, dass sie sich selbst wegsprengen? Wollen sie etwa nicht ins Paradies?“

„Ich habe mich mit ihnen nicht getroffen. Ich hab nur ihr Video gesehen“, wollte sich der Junge rechtfertigen.

Laut Rebellenangaben waren die drei Attentäter vom arabischen Kommandeur „Gerat“ vorbereitet worden.

Ein Jahr Todesschule im Gebirge. Nur selten kommen Rekruten zurück ins zivile Leben. Bevor sie vollwertige Kämpfer werden, durchlaufen sie den Kurs eines Gotteskriegers. Das dauert oft ein Jahr, in dem der Rekrut in den Bergen mit Rebellen lebt. Großen Wert in der ideologischen Bearbeitung legt man auf Denationalisierung: Der Kämpfer soll seine nationale Zugehörigkeit vergessen und sich nur als Mitglied der Muslimgemeinschaft („Umma“) fühlen. So wollen die Anführer der militaristisch-religiösen Gemeinschaften (der „Jamaat“) eine homogene Gruppe schaffen, deren Mitglieder sich ihrem Führer (dem „Amir“) blind unterwerfen und jeden Befehl ausführen.

Großen Einfluss auf junge Kaukasier, die in den Untergrund wollten, übte Scheich Said Burjatski (alias Alexander Tichomirow) aus, der 2007 im Kaukasus auftauchte und am 2.März 2010 ermordet wurde. Der Sohn einer Russin und eines Burjaten (Burjatien ist eine russische, buddhistisch geprägte Republik an der Grenze zur Mongolei) interessierte sich früh für den Buddhismus. Mit 15 wechselte er – angeblich wegen seines kaukasischen Stiefvaters – zum Islam. Ihn studierte er in Moskau, später in der Universität Al-Azhar in Kairo, schließlich bei Privatgelehrten in Ägypten und Kuwait.

Der böse Burjate. Als er als „Said Abu Saad al-Burjati“ zurück in Moskau war, arbeitete er in der Moschee, überwarf sich aber mit der Leitung. Im Ausland war er Anhänger des fundamentalistischen Salafismus bzw. Wahhabismus geworden, der zum bewaffneten Kampf für den Glauben aufruft. Said Burjatski legte sich mit religiösen Führern von Weltrang an. Unter der Moslemjugend Russlands waren seine sprachlich einfachen Vorlesungen populär. Schon mit 26 Jahren trug er den Titel des Scheichs.

Hauptthema der Predigten war die theoretische Begründung des Jihad und der Selbstopferung. Laut Gejdar Dschemal, des Vorsitzenden des Islamischen Komitees Russlands, ist Burjatski der Beweis, dass Leute aus dem nicht kaukasischen Raum in den Untergrund eintreten: „Das sind neue Leute, die ihre Bekanntheit erst nach Ende der beiden Tschetschenien-Kriege erlangten. Das ist eine völlig neue, dritte Welle“, erklärt Dschemal auf Anfrage. Der Tod dieser Leute würde die Kampfbereitschaft ihrer Anhänger nur stärken.

Rattenfänger im Internet. Die jungen Kaukasier konsumierten Burjatskis Predigten vor allem über Websites der Rebellen. Laut der Republikverwaltung gingen zwischen 2008 und2009 Dutzende junge Tschetschenen unter Burjatskis Einfluss zu den Rebellen, ebenso Leute anderer Republiken. In Tschetschenien stehen die Rebellen übrigens am meisten unter Druck: wegen der staatlichen Spezialeinheiten, die wiederum vor allem von Exrebellen gebildet werden.

Der Untergrund lässt sich in drei Teile gliedern: Erstens gibt es jene, die permanent in den Bergen leben. Ihre Zahl wird im Nordkaukasus auf 500 bis 600 geschätzt. Die kampftüchtigsten Gruppen sind in Dagestan und Inguschetien. Der zweite Teil sind Leute, die sie mit Proviant und Munition versorgen, einmalige Aufträge ausführen. Der dritte umfasst Agenten unter aktiven Milizmitarbeitern, die – aus ideologischen oder materiellen Gründen – den Rebellen Informationen liefern.

Der tschetschenische Experte vom „Zentrum gegen den Terror“, Ruslan Martagow, meint, dass der Terror in Moskau zu erwarten war: „Die Rebellen haben Potenzial angehäuft und junge Leute zu Attentätern ausgebildet. Die russischen Sicherheitsorgane aber, berauscht von jüngsten Erfolgen in der Beseitigung nordkaukasischer Rebellenführer, haben den Drohungen Umarows keine Bedeutung beigemessen.“

Rache. Rache. Rache. Laut Martagow dürften die Aktionen gegen Rebellenführer Anlass für die U-Bahn-Anschläge gewesen sein: So wurden vorigen Monat neben Said Burjatski auch der Hauptideologe Ansor Astemirow und der arabische Ausbildner Abu-Haled getötet.

Martagow meint, dass Umarow, der die Anschläge in Moskau auf seine Kappe nahm, seine Rolle im Untergrund übertreibt: „Er ist eher eine symbolische Figur, und man kann wohl kaum von einer strengen Hierarchie der Rebellen sprechen.“ So agierten im Nordkaukasus autonome „Jamaats“, die nur fallweise kooperierten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2010)

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