Wenn Brexit-Befürworter für einen zweiten Volksentscheid werben

Die Pro-Europa-Fraktion der Briten bekommt Zulauf von ehemaligen Brexit-Gegnern.
Die Pro-Europa-Fraktion der Briten bekommt Zulauf von ehemaligen Brexit-Gegnern.APA/AFP/OLI SCARFF
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Der Streit um den EU-Austritt entzweit in Großbritannien selbst Freunde. So mancher Ex-Brexit-Anhänger fühlt sich getäuscht und verteidigt nun für das Recht, seine Meinung ändern zu dürfen.

Vom Brexit-Befürworter zum Brexit-Gegner: Angesichts des Chaos um Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union haben ehemalige Brexit-Unterstützer das Lager gewechselt und wollen das Ergebnis des Volksentscheids vom Juni 2016 am liebsten durch ein zweites Referendum revidieren. Sie haben sich in der Initiative "RemainerNow" ("BleiberJetzt") zusammengeschlossen.

Der 38-jährige Gary Maylin aus Norwich im Osten Englands ist einer von ihnen. Ursprünglich hatte er sich für das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU eingesetzt - er wollte nach mehr als vier Jahrzehnten Mitgliedschaft seines Landes "Souveränität". Heute erinnert er sich, dass er in seiner Entscheidung damals durch ein wahres "Brexit-Sperrfeuer" beeinflusst wurde.

"Mein Abgeordneter war für den Austritt, alle Argumente, die ich hörte, waren gegen den Verbleib in der EU", sagte Maylin der Nachrichtenagentur AFP. Daraus bildete sich bei ihm die Meinung, dass die EU für jede Menge Fehlentwicklungen verantwortlich sei - "die Unfähigkeit unserer Regierung, unser Schicksal zu kontrollieren".

Die weltweit fünftgrößte Wirtschaft befindet sich derzeit in politischen Turbulenzen. Weniger als zehn Wochen vor dem vereinbarten Termin droht ihr der ungeregelte EU-Austritt: Flugzeuge müssten wegen fehlender Fluglizenzen dann womöglich am Boden bleiben, Waren würden beim Zoll feststecken und Reisende bei Grenzkontrollen.

Viele enttäuschte Brexit-Befürworter

Maylin gehörte vor zweieinhalb Jahren zu den knapp 52 Prozent der Wähler, die für den Brexit stimmten. Heute würde er komplett anders entscheiden. "Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass wir als Nation auf uns allein gestellt nicht erfolgreich sein können", sagt er. Erst in einem vereinten Europa sei Großbritannien stark, nicht als unabhängiges Land. Dazu führt Maylin alles Mögliche ins Feld, von US-Präsident Donald Trump bis zum rasanten Aufstieg Chinas.

Vor einigen Tagen fuhr er mit einem Dutzend anderen vom Brexit abgekommenen Menschen zum Parlament in London, um dort Parlamentarier mit ihren Positionen zu konfrontieren. Das Treffen wurde von der Initiative "RemainerNow" organisiert, die der EU-Anhänger Andrew Davidson in seiner Freizeit ins Leben gerufen hat. Ihn hatte das Ergebnis des Volksentscheids "verstört" und deshalb suchte er nach sogenannten Brexiteers, die ihre Entscheidung im Nachhinein bereuten.

In seinem persönlichen Umfeld, in sozialen Medien und im Fernsehen habe er viele enttäuschte Brexit-Unterstützer erlebt, sagte Davidson. Seine Bewegung fordert ein zweites Referendum, was die Regierung von Premierministerin Theresa May beharrlich ablehnt. Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass ein zweiter Volksentscheid eine Mehrheit für den EU-Verbleib ergeben würde. Überzeugte Brexit-Anhänger bestreiten das.

"Versprechen wurden gebrochen"

Christopher Oram aus der Grafschaft Dorset in Südwestengland ist ein weiterer ehemaliger Brexit-Unterstützer, der seine Meinung geändert hat. Damals hätten die Abgeordneten im Zusammenhang mit dem Brexit das Blaue vom Himmel versprochen: eingespartes Geld, vorteilhafte Handelsabkommen und eine blühende Zukunft. "Dann hörte ich, dass wir aus dem Binnenmarkt und der Zollunion ausscheiden werden - ein ganz schöner Schock." Der 28-Jährige sieht sich getäuscht: "Alle Versprechen wurden gebrochen."

Für die ehemaligen Brexit-Befürworter war es nicht leicht, ihren Meinungswandel öffentlich zu machen. Bei Freunden und Familienangehörigen, die weiter zum Brexit stehen, stoßen sie auf Unverständnis. Maylin wird nach eigenen Worten in den sozialen Medien gemobbt.

Und Oram hat sich mit seinem besten Freund überworfen. "Er ist immer noch der Ansicht, das wir die EU verlassen sollten. Das sorgt für viele Spannungen zwischen uns", erzählt er. "Unsere Partner haben schon gesagt, dass wir am Essenstisch nicht mehr über den Brexit sprechen dürfen."

Andere Freunde gehen Oram aus dem Weg. "Ich finde es verstörend, wenn Menschen nicht akzeptieren, dass ich das Recht habe, meine Meinung zu ändern."

(APA/AFP/Edouard Guilhaire)

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