Gedankenexperiment

Ein Tag ohne Plastik: Geht das überhaupt?

(c) Marin Goleminov, Presse
  • Drucken

Wer an Plastik denkt, denkt zuerst an Sackerln, Besteck, Verpackungen. Doch Kunststoffe stecken auch in vielen anderen Gegenständen. Ein Leben auf der Erde ohne Kunststoffe – ist das möglich? Ein Gedankenspiel.

Jeder Tag beginnt gleich, früher oder später läutet der Wecker – sehr oft ein iPhone 7. Es spielt einen grauenhaften Ton. Am liebsten würde man es gegen die Wand schmeißen. Stattdessen stehe ich auf. Im Bad greife ich zu meiner elektrischen Zahnbürste, Zahnpasta von Elmex, in der Dusche habe ich die Wahl zwischen Nivea „Honey and milk“ und „Care and relax“, es gibt noch fünf andere Tuben, aber die sind leer. Kontaktlinsen, Kosmetik, irgendwann bin ich fertig. Zur Kleidung: Ich ziehe meinen neuen Pullover an, schneide das Etikett ab, 90 Prozent Polyester, zehn Prozent Baumwolle.

Ein Frühstück geht sich nicht mehr aus. Dann hetzt man. Aus der Tür, in Richtung U-Bahn, zum Bäcker. Ich kaufe noch zwei Weckerln und Wasser. Acht Stunden verbringe ich vor Bildschirmen – in der Arbeit, zu Hause noch einmal so viel. Ich tippe, lese, scrolle durch meine Timeline. Das Abendessen kommt verpackt und danach in den Müll. Ich wasche Wäsche, schalte den Geschirrspüler ein, ziehe die Vorhänge zu. Zeit, schlafen zu gehen. Ein letzter Blick auf mein Handy, ich stelle den Alarm auf 8.00 Uhr. Es wird dunkel.

Am nächsten Morgen klingelt nichts. Das Gedankenspiel beginnt. In einer Welt ohne Plastik wäre es leise. Mein iPhone würde nicht funktionieren. Gehäuse, Tastatur und Display bestehen aus Kunststoff. Und auch einen gewöhnlichen Wecker würde es nicht geben. Ich könnte nichts sehen, denn in meiner Brille sind Kunststoffgläser, die Bügel, das Gestell – alles aus demselben Material. Kontaktlinsen: keine Option. Im Bad würden viele Produkte verschwinden. Ich könnte statt meiner elektrischen Zahnbürste eine Zahnbürste aus Bambus verwenden, statt meiner sieben Tuben Duschgel könnte ich Gläser wiederbefüllen. Auf Kosmetik könnte ich auch ganz verzichten. Aber in einer Welt ohne Plastik gäbe es gar kein Badezimmer, jedenfalls nicht so, wie wir es kennen.

Würde sämtlicher Kunststoff aus dem Bad entfernt, das Zimmer würde leerer und leerer werden. Zuerst würde der Anstrich von den Wänden bröckeln. Die am häufigsten verwendete Wandfarbe ist Dispersionsfarbe. Ihre Basis sind Kunstharze. Auch die Fliesen lägen auf dem Boden. Es könnte sie nichts mehr zusammenhalten. Danach würde das Waschbecken fallen, der Spiegel, die Handtuchhalter und die Holzkästchen mit ihm. Sie sind mit Dübeln fixiert, die nur aus einem Material hergestellt werden.

Ich könnte mich nicht duschen, denn ohne Pumpen gäbe es kein Wasser. Irgendwann würde es zu stinken beginnen. Es gäbe auch keinen Spülkasten, weder das Spülrohr noch die Klobrille oder der Deckel der WC-Schale wären da. Alles würde wackeln. Und es wäre dunkel. Rohre, Formstücke, Klemmen und Isolierungen von Elektroanlagen sind aus Plastik. Es käme sofort zu einem Kurzschluss.

In der Küche würde dasselbe passieren. Viele Geräte wären unbrauchbar ohne Kunststoff, vom Schneidmesser über die Kaffeemaschine und den Herd bis zum Kühlschrank. Ich würde meine Wohnung nicht wiedererkennen. Bodenbeläge, Teile der Möbel wie Matratzen und Sitzpolster wären weg. Es gäbe keine ordentliche Stromversorgung. Beleuchtung, Unterhaltungs- und Sicherheitselektronik – nichts davon würde funktionieren. Ich würde erst gar nicht versuchen, in die Arbeit zu fahren. Denn was sollte ich dort überhaupt? Ohne Plastik kein Fernsehen.

Mein Tag im Konjunktiv endet früh. In einer Welt ohne Plastik könnte ich nicht leben. Im Bad, in der Wohnung, draußen: Es ist überall. Kunststoffe sind wahre Wundermaterialien. Sie haben in den vergangenen 100 Jahren einen Siegeszug angetreten, sind in alle unsere Lebensbereiche vorgedrungen. Für praktisch jeden Zweck gibt es einen Kunststoff mit genau den richtigen Eigenschaften. Sie sind fast unbegrenzt formbar, können elastisch und zäh sein, lassen sich zu hauchdünnen Folien verarbeiten oder in langlebige Wasserrohre verwandeln. Kunststoffe ermöglichen die Herstellung von schnell trocknender Sportbekleidung, schlagfesten Gerätehüllen, sie lassen Farben und Lacke leuchten.

Und was jetzt?

Der Durchbruch für die neue Materialklasse kam nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwar waren einige Kunststoffe seit Jahrzehnten bekannt, aber erst neue und ausgereifte Herstellungsverfahren schufen die Voraussetzung dafür, dass Kunststoffe den Alltag erobern konnten. Seitdem hat die Menschheit mehr als acht Milliarden Tonnen Plastik produziert – und die Produktionsmengen wachsen weiter.

Zu diesem Schluss kamen der US-Forscher Roland Geyer von der Universität von Kalifornien und seine Kollegen im Fachblatt „Science Advances“ vor einem Jahr.

Kunststoffe werden von der Natur nur sehr langsam abgebaut. Eine Einkaufstasche schwimmt zehn bis 20 Jahre lang im Meer, bis sie vollständig zerrieben ist, eine PET-Flasche zerfällt erst innerhalb von 450 Jahren. Mit der Zunahme der Einsatzmöglichkeiten steigen auch die Abfallberge. Plastikmüll zerstört den Lebensraum vieler Arten und ist aufgrund seiner giftigen Inhaltsstoffe für die Gesundheit von Mensch und Tier gefährlich. Heute weiß man: Ja, wir haben ein Problem. Aber wer ist schuld? Und was können Politik, Wirtschaft und Verbraucher tun, um es zu stoppen?

Es gibt Verbote und Vorschläge. Wir können nur noch Stofftaschen verwenden, Obst und Gemüse mit weniger Verpackung versehen, Mehrwegflaschen einführen. Die Liste ist lang. Aber ein Leben auf der Erde ohne Plastik? Das ist kaum noch vorstellbar. Wir wollen Plastik. Und wir brauchen es, wenn wir unseren Standard und die gewohnte Bequemlichkeit beibehalten wollen.

Es ist 24.00 Uhr. In einer Welt aus Plastik liege ich in meinem Bett, mein Handybildschirm leuchtet blau. Ich lese die Nachrichten, sie klingen alle gleich an diesem Abend: „Regierung plant Plastiksackerlverbot“ oder „Österreich verbietet Plastiktüten“. Ich schlafe ein, und auch in meinen Träumen ist er wieder – der Stoff, der alles zusammenhält.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Geschichte

Was ist Plastik? Und wer hat es erfunden?

Der Stoff, aus dem viele Träume sind: Unzählige Dinge des täglichen Lebens, wie Computer, Auto, Outfit oder Handy, werden aus Kunststoff gemacht. Doch wie entsteht die bunte Materie, die so vielfältig einsetzbar ist, und was zeichnet sie aus?
Plastikkreislauf

Vom Mistkübel ins Mittelmeer

Ein Albatros liegt verendet am Strand. In seinem Inneren befindet sich ein Sammelsurium von Flaschendeckeln, Gummibändern und weiteren Plastikteilen. (Was) hat der österreichische Durchschnittsverbraucher damit zu tun?
Mikroplastik

Kleine Partikel, großes Fragezeichen

Mikroplastik ist auf dem Vormarsch: Allein der Abrieb von Autoreifen verursacht jährlich tonnenweise kleinste Partikel, die in die Umwelt gelangen. Und sich dort ausbreiten: In Nahrungsmitteln, Tieren und Menschen wurde Mikroplastik bereits nachgewiesen.
EU-Vorschriften

Europa, der Saubermacher

Berge aus Plastikmüll sind an vielen europäischen Stränden bereits Realität. Laut dem WWF-Report 2018 ist Europa im weltweiten Vergleich nach China der zweitgrößte Plastikproduzent. Mit den neuen Vorschriften nimmt die EU-Kommission jetzt die Länder in die Pflicht, ihre Einwegplastikprodukte zu reduzieren.
Plastikfreies Leben

Kein Plastik für Nadine

Plastikfreie Alternativen sind im Trend: beim Kochen, Einkaufen und Hygieneartikel. Ein möglichst plastikfreies Leben hat sich auch Nadine Reyhani als Ziel gesetzt, die auf diesem Weg viel lernen durfte.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.