Wenn der Darm seinen Schutz verliert

Eine gesunde Darmflora besteht aus 100 Billionen Bakterien.
Eine gesunde Darmflora besteht aus 100 Billionen Bakterien.(c) Science Photo Library/ picturedesk.com
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Das Leaky-Gut-Syndrom steht für eine undichte Dünndarmschleimhaut. Es soll durch falsche Ernährung, auch zu viel Stress und Alkohol ausgelöst werden – und ist wohl eine Folge der modernen Ernährung.

Hinweise darauf soll es seit den frühen 1980er-Jahren geben. Mediziner haben es bereits im Zuge unterschiedlicher Erkrankungen diagnostizieren können, und Studien zu dem Thema häufen sich – dennoch wird es in der Schulmedizin noch nicht ganz ernst genommen, teilweise sogar belächelt: Die Rede ist vom Leaky-Gut-Syndrom (LGS), das übersetzt „undichter Darm“ bedeutet. Genauer gesagt wird damit eine geschädigte Dünndarmschleimhaut beschrieben, deren Schutzschicht durch unterschiedliche negative Einflüsse löchrig oder durchlässig geworden ist. Diese soll als Mitursache zahlreicher chronischer Krankheiten gelten und in Zusammenhang mit Allergien, Nahrungsmittelintoleranzen oder etwa einem geschwächten Immunsystem stehen. Denn das Wissen rund um den Darm als Sitz der Gesundheit rückt in jüngster Vergangenheit vermehrt wieder in den Fokus. Doch welchen Einfluss hat ein undichter Darm jetzt auf die Gesundheit des Menschen, und warum kann eine Ernährung wie zu Omas Zeiten eine wichtige Rolle bei der Therapie spielen?

Umkämpfte Fläche. Blähungen, chronische Durchfälle oder andere Verdauungsbeschwerden können erste Anzeichen eines Leaky-Gut-Syndroms sein – oft leben Menschen jahrelang damit, bis sie einen Arzt aufsuchen. „Sie kommen mit dicken Ordnern unterschiedlicher Befunde zu mir – aber ohne eindeutige Diagnose“, schildert der auf Stuhldiagnostik und Darmsanierung spezialisierte Allgemeinmediziner Gerhard Wallner.

Die Dunkelziffer für Menschen mit Leaky-Gut-Syndrom dürfte in Österreich sehr hoch sein – nicht zuletzt, weil viele Ärzte darauf noch nicht testen. Wie auch – das Leaky-Gut-Syndrom kann nicht wirklich „diagnostiziert“ werden, denn es bezeichnet präzise gesagt einen Symptomkomplex, der bei jedem Menschen anders aussehen kann. „Jeder Patient hat eine individuelle Entstehungsgeschichte. Die Ursachenforschung ist daher zentral“, sagt Wallner. So spielen etwa der Lebensstil, Ernährung und eine etwaige Medikamenteneinnahme eine große Rolle bei der Entstehung.

„Das Leaky-Gut-Syndrom betrifft nur die Dünndarmschleimhaut, genauer gesagt die eine Zellschicht, mit der sie bedeckt ist. Diese bildet im Normalfall eine 100-prozentige Barriere gegenüber der Nahrung, die wir zu uns nehmen“, erklärt der Facharzt für Innere Medizin und Nierenheilkunde Roland Schaufler, der in seiner Wiener Praxis auf ganzheitliche Diagnose und Therapie spezialisiert ist.

Das Milieu im Darm ist eine stark umkämpfte Oberfläche – und letztlich eine sehr leicht verletzbare Achillesferse des Körpers. „Wenn diese Membran undicht wird, können Fremdstoffe, also Antigene aus Lebensmitteln, in den Körper eindringen – unsere Immunzellen reagieren darauf mit Entzündungen und bilden Abwehrstoffe. Es gibt ganz viele Hinweise dafür, dass nur über diesen Weg Eindringlinge in den Körper kommen können – und dennoch wird der Zusammenhang mit einem undichten Darm scheinbar nicht erkannt“, sagt Schaufler. Vor allem die Entstehung von Lebensmittelintoleranzen oder Allergien seien eine logische Konsequenz dieses Vorgangs im Körper.

Das Syndrom entsteht nicht über Nacht. Lange Zeit, bevor sich ein Leaky Gut manifestiert, versucht der Körper ununterbrochen, auftretende Lücken zu schließen – irgendwann ist die Regenerationsfähigkeit der Dünndarmschleimhaut allerdings überschritten. „Es gibt eine Fülle von Symptomen, die alle gleichzeitig oder in unterschiedlicher Zusammensetzung auftreten können. Die häufigsten sind ein Blähbauch, Stuhlunregelmäßigkeiten, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Infektanfälligkeit sowie psychosomatische Symptome wie chronische Müdigkeit oder Depression. Aber auch Gelenksprobleme oder Autoimmunerkrankungen können eine Langzeitfolge sein“, so Wallner.

Patienten mit Candida-Pilz. Häufig steckt auch eine Fehlbesiedelung der Darmflora dahinter. Dieses komplizierte Geflecht aus 100 Billionen (!) Bakterien wird als Mikrobiom bezeichnet und wiegt allein eineinhalb Kilogramm. „Durch eine zuckerlastige oder Weißmehl-dominierte Ernährung kann sich etwa der Candida-Pilz im Mikrobiom ansiedeln. Dieser ist bei meinen Patienten zu fast 100 Prozent im Zusammenhang mit einem Leaky-Gut-Syndrom nachweisbar“, betont Wallner.

Aber auch negative Einflussfaktoren wie Dauerstress, Medikamenteneinnahme, Alkohol, Nikotin oder eine bakterielle Infektion können Mitverursacher sein. Es gibt selten nur eine Ursache, und eine ungesunde Lebensweise kann durchaus eine auslösende oder verstärkende Wirkung haben. Aufschluss kann etwa eine genaue Stuhldiagnostik geben, weitere Tests können einen Verdacht auf LGS oft bestätigen (siehe Infobox).

Doch wie genau entstehen nun die Löcher in dieser sensiblen Membran? „Dafür gibt es zwei Gründe: Die Zellen der Darmschleimhaut sind die am härtesten arbeitenden im Körper. Nach ungefähr drei Tagen sterben sie aus Erschöpfung ab. Durch Zellteilung haben sie allerdings vorher dafür gesorgt, dass die Tochterzelle ihren Platz übernimmt. Hat die Zelle jedoch zu wenig Energie, kann sie sich nicht mehr teilen und hinterlässt somit eine Lücke“, erklärt Schaufler. Der zweite Grund, wie die Löcher entstehen, sind Toxine in der Nahrung, die die Schweißnähte – sogenannte Tight Junctions – zwischen den einzelnen Zellen aufschneiden können.

Problemstoffe im Essen. Zu den Toxinen zählen etwa Zusatzstoffe in der modernen Ernährung wie Konservierungsmittel. „Allerdings machen diese nur 20 Prozent des Problems aus – 80 Prozent stammen aus pflanzlichen Lebensmitteln. Probleme machen hier die sogenannten Lektine. Das sind die eigenen Abwehrstoffe der Pflanzen, sie können diese Schweißnähte aufknacken“, erklärt Schaufler. Sie gab es zwar schon immer, allerdings sind im heutigen Obst und Gemüse sehr hohe Mengen an Lektinen enthalten. Warum? Sie wurden hineingezüchtet, damit diese nicht von Schädlingen gefressen werden. Früchte, die wegen der langen Transportwege unreif geerntet werden, enthalten ebenfalls sehr viele Lektine – die Pflanze sorgt so auf natürliche Weise dafür, dass ihre unreife Frucht nicht gefressen wird und somit das Überleben gesichert ist. „Man kann das Leaky-Gut-Syndrom aus diesen Gründen auch als ein Problem unserer modernen Ernährungsweise und Landwirtschaft bezeichnen“, meint Schaufler. „Und damit sind wir auch bei der Therapie eines Leaky-Gut-Syndroms angekommen: Man kann es zum Großteil nur durch eine nachhaltige Ernährungsumstellung heilen.“

Regional und saisonal zu essen tut in diesem Fall nicht nur der Umwelt gut, sondern auch dem Darm: Durch reifes Obst und Gemüse enthält dieses weniger Lektine – also Toxine, die die Dünndarmschleimhaut schädigen können. Die Ernährung spielt im Zusammenhang mit der Entstehung daher auch wohl die zentralste Rolle. Dazu Schaufler: „Meine Oma wusste zum Beispiel, dass grüne Kartoffeln giftig sind oder dass man von unreifem Obst Bauchweh bekommt – aktivieren wir daher wieder unseren Hausverstand.“

TESTS & THERAPIE

Leaky-Gut-Syndrom. Das Syndrom festzustellen ist nach wie vor eine Herausforderung. Ein ausführliches Anamnesegespräch ist im Vorfeld wichtig. Nahrungsmittelintoleranzen und Verdauungsbeschwerden sind ein erstes und wichtiges Indiz.

Eine Stuhldiagnostik ist schonend für den Patienten und aussagekräftig. Dabei wird auch die Darmflora untersucht und festgestellt, ob eine Fehlbesiedelung der Dünndarmschleimhaut vorliegt. Der Entzündungsmarker Zonulin kann im Blut oder Stuhl festgestellt werden, bei einem Leaky-Gut-Syndrom entstehen auch Entzündungen im Körper.

Weitere Tests. Der Lactulose-Mannitol-Test gibt ebenfalls Auskunft darüber, ob der Darm durchlässig ist.
Ein Mangel an Vitaminen oder Nährstoffen im Blut ist meist Teil des Problems und wird mittels Bluttest festgestellt. Eine Gastroskopie oder Koloskopie kann hingegen das Syndrom nicht feststellen. Was mitunter ein Grund ist, warum die Kenntnis um das Syndrom noch nicht so weit verbreitet ist beziehungsweise die Bestimmung so schwierig ist.

Therapie. Das Wichtigste ist, die Entzündungen im Körper zu reduzieren: Denn durch ein Leaky-Gut-Syndrom hat der Körper Kontakt mit Antigenen, auf die er mit Entzündungen reagiert. Starke Antigene sind etwa Weizen und Kuhmilch, auf die meist einige Zeit verzichtet werden muss. Weiters ist es wichtig, Lektine zu reduzieren und ballaststoffreich zu essen. Erstere sind etwa in Obst, das weit reisen muss und daher für lange Haltbarkeit gezüchtet wurde, enthalten. Sie können im Übermaß die Dünndarmschleimhaut schädigen – und damit zu einer Verschlechterung beitragen. Ballaststoffe sind hingegen gut für die Darmflora.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2019)

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