360 Tote und kein Heldenepos

Der Trauerzug für die Gefallenen der Exekutive auf der Ringstraße vor dem Parlament.
Der Trauerzug für die Gefallenen der Exekutive auf der Ringstraße vor dem Parlament.(c) ONB picturedesk Hilscher
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Der Bürgerkrieg im Februar 1934 blieb 85 Jahre lang eine ideologische Kampfzone. Kurt Bauers Forschungen zu dem Thema bestechen durch wissenschaftliche Nüchternheit.

Ohne Zorn und ohne Eifer, „sine ira et studio“, sollte man an die Geschichte herangehen. Gute alte Empfehlung von Tacitus aus der Antike. Doch leider hielt man sich nicht immer daran. Die Deutung der Vergangenheit wurde nicht allein den Fachleuten überlassen, auch andere kümmerten sich gern darum. So kam es bei ein und demselben Ereignis zur Ausbildung unterschiedlicher Geschichtsbilder, oft verliefen sie ziemlich genau entlang ideologischer Trennlinien.

Auch auf die Objektivität der Historiker war nicht immer Verlass. Sie zeigten sich – selbst in demokratischen Systemen – gefährdet und anfällig für Vereinnahmungen, ließen sich bei der Deutung der Vergangenheit politische Optionen vorgeben. Auch Österreich besaß eine derartige „ideologische Kampfzone“ (Gudula Walterskirchen): den Bürgerkrieg vom Februar 1934 zwischen dem sozialdemokratischen Schutzbund auf der einen Seite und Bundesheer, Polizei und regierungstreuen Heimwehren auf der anderen.

Für die Sozialdemokraten war der Aufstand am 12. Februar1934 ein Verzweiflungsschlag gegen das autoritäre Regime des christlichsozialen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß. Ohne Aussicht auf Erfolg mutete er an wie die Inszenierung eines würdevollen Abgangs. „Von Leitartiklern mit falschen Parolen berauscht“ habe die Partei „Heilloses getan, Heilloseres erlitten“, so Karl Kraus. Der Schutzbund war der Übermacht nicht gewachsen, der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen.

Er war ein zentrales Ereignis in der Geschichte der Ersten Republik, das jetzt endlich von parteipolitischer Vereinnahmung herausgelöst scheint. Doch offenbar wurde bis in die jüngste Vergangenheit hinein keine Einigkeit über die Bewertung der Ereignisse erzielt, bis zuletzt spielte das Thema rund um die Gründung von zwei parallelen „Häusern der Geschichte“, in St. Pölten und Wien, eine Rolle.

Trennung von Mythen und Fakten

Es sei Zeit, Fakten von Mythen zu trennen, ohne Scheuklappen die alten ideologischen Schlachten zu beenden, schreibt der Zeithistoriker Kurt Bauer in seinem neuen Buch (siehe Literaturtipp). 85 Jahre nach den Ereignissen muss man erstaunt feststellen: Eine kompakte, wissenschaftlich-nüchterne Darstellung, wie sie Bauer nach mehrjähriger Forschungsarbeit vorlegt, hat gefehlt. Sie wurde als Forschungsprojekt des Zukunftsfonds der Republik Österreich schon vor vier Jahren vorgestellt, und zwar mit der Zielsetzung, erstmals die Opferzahlen zu erforschen. Die vorliegenden Angaben wichen nämlich stark voneinander ab. Die Bandbreite der veröffentlichten Zahlen reichte von einigen Hundert bis mehreren Tausend Toten.

Angesichts der Omnipräsenz des Themas war doch erstaunlich, dass dieses Problem ungelöst war. Die Kontrahenten hatten offenbar Interesse daran, die Zahlen zu verändern. An dem 1934 auf dem Wiener Zentralfriedhof errichteten „Denkmal für die Opfer der Exekutive“ sind mindestens drei Personen verzeichnet, die gar nicht an den Kämpfen teilgenommen haben. Beide Seiten versuchten, die eigenen Opferzahlen in die Höhe zu lizitieren. Kurt Bauer ging den mühsamen Weg, mehr Quellen heranzuziehen, neben Zeitungen und Zeitschriften auch Grabsteine, Gedenktafeln, Friedhofsverzeichnisse, Polizeiberichte. Eine vollständige Datenbank der Todesopfer ist unter www.kurt-bauer-geschichte.at abrufbar.

Das Ergebnis: Die Zahl der Todesopfer auf beiden Seiten hält sich ungefähr die Waage, insgesamt sind es rund 360 Tote. Das traurigste Ergebnis des Buches jedoch: Viele dieser Opfer, 130 bis 140, waren nicht Kombattanten der beiden Lager, sondern unbeteiligte Österreicher, die mehr oder weniger zufällig in das Kampfgeschehen gerieten. Sie wurden im dicht verbauten Gebiet getötet, wenn sie gerade einen raschen Blick aus dem Fenster warfen, einkaufen gingen oder sich aus Neugier in die Nähe der Schießereien begaben. In Wien war die Zahl der Todesopfer besonders hoch, es folgten Oberösterreich und die Steiermark. Die größte Opfergruppe: Gendarmen und Polizisten.

Kein selbstloser Opfergang

Ein Heldenepos war der Aufstand nicht, eher ein „Debakel“ (Hanns Leo Mikoletzky). Bei Kurt Bauer wird der „Heroismus“ der Schutzbündler relativiert, es bestehe kein Anlass, ihren Kampf als selbstlosen Opfergang und als Heldentat zu stilisieren und daraus ein moralisches Überlegenheitsgefühl abzuleiten. Vielmehr sei die sozialdemokratische Führung da sehenden Auges in ein blutiges Desaster hineingestolpert. Die Schlussfolgerungen der Historikerin Gudula Walterskirchen, es habe sich um einen von den Nationalsozialisten gleichsam „ferngesteuerten“ Putschversuch gehandelt, weist Bauer zurück.

War es ein Kampf für die Demokratie, Notwehr gegen Tyrannei, die auch den Tod Unschuldiger rechtfertigt? Gegen eine Regierung, die sich völlig vom Parlamentarismus abgewandt hatte? Freilich: Diejenigen, die zum bewaffneten Kampf aufriefen, wollten nicht zurück zur Demokratie von 1918, sondern sie durch die Diktatur des Proletariats ersetzen. „Dass der Februaraufstand 1934 ein Kampf für Freiheit und Demokratie gewesen sein soll, wie es später auf Dutzende Gedenksteine gemeißelt wurde, ist eine Projektion aus der Zeit nach 1945, als die Demokratie westlichen Zuschnitts auch unter Sozialdemokraten wieder in Mode gekommen war“ (Bauer).

Dollfuß wurde von der Propaganda als „Arbeitermörder“ bezeichnet, vor allem wegen des Artillerieeinsatzes gegen Gemeindebauten. Aus heutiger Sicht, so Bauer, ist der Vorwurf nicht haltbar, der Einsatz der Geschütze, stets mit Vorwarnung, kostete wenige Opfer, und es waren die Aufständischen, die die Wohnungen zu Kampfschauplätzen machten. Doch man kann Dollfuß den Vorwurf nicht ersparen, mit der Hinrichtung von neun Aufständischen unmenschlich gehandelt zu haben. Schwer zu bestreiten ist auch, dass der Kanzler durch seinen Verfassungsbruch und die Demoralisierung der Sozialdemokraten die Verzweiflungstat der Schutzbündler angestachelt hat. So wurden sie in das aussichtslose Drama hineingetrieben und opferten ihr und das Leben Unschuldiger in einem rein symbolischen Akt der Selbstbehauptung.

Das Buch

Kurt Bauer:
„Der Februar-Aufstand 1934.
Fakten und Mythen"
Böhlau Verlag,
218 Seiten, 29 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2019)

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