Der Streit um die deutsche Maut veranschaulicht die Lückenhaftigkeit europäischer Politik: von der Verkehrs- über die Steuer- bis zur Sozialpolitik.
Du sollst nicht diskriminieren: Mit dieser Maxime beginnt Nils Wahl, Generalanwalt am Gerichtshof der EU, seinen Schlussantrag in der Frage, ob Deutschland eine Autobahnmaut einführen darf, die im Wege einer Gutschrift ausschließlich für deutsche Steuerpflichtige letztlich nur von ausländischen Autofahrern zu bezahlen wäre. Was der schwedische Jurist auf diesen 32 Seiten argumentiert, lässt der österreichischen Bundesregierung wenig Aussicht auf Erfolg mit ihrer Vertragsverletzungsklage gegen Deutschland.
Nicht immer folgt der Gerichtshof den Empfehlungen der Generalanwälte. Doch wer Wahls Überlegungen liest, kann nur zum Schluss kommen, dass Österreich große Mühe haben dürfte, noch in irgendeiner Weise gegen diese wasserdichten Ausführungen anzukämpfen. Wien argumentiere „paradox“ und bringe Einwände vor, die „methodisch fehlerhaft“ seien, rügt er. Man muss Generalanwalt Wahl nicht folgen. Österreichische Politiker, von Andreas Schieder, dem SPÖ-Listenführer für die Europawahl, bis zu Verkehrsminister Norbert Hofer, sind bei all ihrer sonstigen gegenseitigen Abneigung in ihrer Vorstellung geeint, österreichische Autofahrer würden (mit Sanctus der EU) zu Diskriminierungsopfern.
Doch wer diesen schweren Vorwurf ins Treffen führt, sollte sich klar darüber sein, was das Diskriminierungsverbot (hier aus Gründen der Staatszugehörigkeit) bedeutet. Wahl widmet dieser Begriffsklärung eine Seite seines Gutachtens. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung besage, „dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen“. So weit, so logisch. Doch was heißt das in Hinblick auf die Unionsbürgerschaft, die die EU laut Artikel neun des EU-Vertrags verpflichtet, „den Grundsatz der Gleichheit ihrer Bürgerinnen und Bürger, denen ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zuteil wird“, in ihrem gesamten Handeln zu achten?
Streng betrachtet offenbart der Rechtsstreit um die deutsche Maut einmal mehr die Lückenhaftigkeit wesentlicher Politiken auf europäischer Ebene. Denn würden die Regierungen den Vorschlag der Kommission aufgreifen, eine unionsweite, kilometerabhängige Maut einzurichten, stellte sich die hier mit viel Mühe und politischen Reibungsverlusten abgehandelte Streitfrage gar nicht. Ein Binnenmarkt für alle Unionsbürger, freie Fahrt in Schengenland – aber jeder Staat hegt eifersüchtig sein eigenes, nationales Mautsystem? Absurd.
Regulatorische Fleckenteppiche wie dieser werden auch in anderen politischen Feldern so lang Anlass zu zwischenstaatlichen Streitigkeiten geben, wie es an der Einsicht mangelt, dass Fragen gemeinsamen Interesses gemeinsam am besten zu beantworten sind. Man darf hier beispielhaft auf die Besteuerung von Unternehmensgewinnen hinweisen, bei der es seit Jahren durch den Widerwillen der Finanzminister nicht einmal gelingt, eine einheitliche Berechnungsmethode für die zu besteuernden Gewinne einzuführen.
Und auch in der Sozialpolitik, in der es aus schlüssigen Gründen nur wenige gesetzgeberische Zuständigkeiten für die Union gibt, sorgt der nationalstaatliche Eigensinn im täglichen Leben der Unionsbürger für Mühsal und Sorgen: Sei es, dass man als entsendeter Arbeitnehmer in einem anderen EU-Land versucht, die Mitversicherung seines Kindes dort registrieren zu lassen, ohne im engsten Wortsinn kafkaeske Behördenwege hinter sich bringen zu müssen. Oder sei es, dass eine Regierung wie die österreichische gegen die geltende Rechtsprechung und erklärte Haltung der Kommission beschließt, nicht österreichische Unionsbürger bei der Bemessung der Familienbeihilfe im Alleingang zu diskriminieren, statt eine gemeinsame europäische Lösung zu suchen.
All das wären Maßnahmen, um dem Geist des EU-Vertrags gerecht zu werden – also jedem Unionsbürger „ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit“ zuteilwerden zu lassen.
E-Mails an:oliver.grimm@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2019)