In der Odenwaldschule haben auch Schüler andere Schüler gequält. Kinder neigen dazu, Macht auszuleben und auszuüben. Wenn moralische Erziehung funktioniert, ist das Verhältnis zu Gewalt ein zurückhaltendes.
Brigitte war klein, schwarzhaarig, nicht besonders hübsch und nicht besonders sportlich. Niemand in der Klasse beachtete die Zwölfjährige besonders – außer, wenn es irgendwo im Raum leise und anhaltend „Summm“ machte. Denn dann war klar, was kommen würde. Brigitte legte Nadel und Faden zurecht, die sie immer unter ihrem Pult griffbereit hatte. Ihr ganzer Körper spannte sich an. Im richtigen Augenblick schoss ihre Hand blitzschnell nach vorne – und das Opfer war gefangen. Kein Lehrer bekam jemals etwas mit. Denn Fliegen machen keine Geräusche. Auch nicht, wenn sie von zwölfjährigen Mädchen mit Nadeln durchstochen und zu zappelnden Halsketten aufgefädelt werden.
Brigitte war die „Herrin der Fliegen“. Tatsächlich. Nicht im übertragenen Sinn des berühmten Romans „Herr der Fliegen“ von William Golding, auf den man sofort stößt, wenn man nach Anhaltspunkten dafür sucht, warum Kinder und Jugendliche grausame oder sadistische Taten begehen. Taten, wie sie in dieser Woche im Zuge der Missbrauchsskandale aus der deutschen Odenwaldschule gemeldet wurden. War bisher nur bekannt, dass sich einige Lehrer an Schülern vergingen, ist mittlerweile klar, dass das Regime aus Missbrauch und Quälerei auch unter den Schülern ausgeübt wurde. Die „Frankfurter Rundschau“ berichtet von konzertierten Attacken Älterer auf jüngere „Sandsäcke“, vom Versengen und Verbrühen von Genitalien, von Vergewaltigungen und vom „Eiern“, bei dem Buben auf die Hoden geschlagen wurde. Teilweise sollen Lehrpersonen untätig daneben gestanden sein.
Eine Gesellschaft, die sich für grundsätzlich zivilisiert, aufgeklärt und wohltätig hält, erschüttert wenig so tief wie grausame Taten, die an Kindern verübt werden. Ärger ist nur, wenn Kinder anderen Kindern etwas antun. Denn Kinder schleppen eine schwere Bedeutungslast mit sich herum. Für die einen sind sie der Inbegriff der Unschuld, die nur durch falsche Erziehung und fehlgeleitete Entwicklungen verdorben werden kann. Für die anderen repräsentieren sie die ursprüngliche Essenz der Natur, das „Wilde“ schlechthin, das sich ohne zivilisierende Anleitung ungehindert Bahn bricht. Wie im „Herr der Fliegen“, wo die Kinder – auf sich selbst gestellt – auf einer Insel ein Regime des Schreckens der Starken gegen die Schwachen errichten, das auch vor Mord und Totschlag nicht zurückschreckt. In jedem Fall aber gelten die Kinder als der Spiegel, in dem die Gesellschaft gerne ihren Zustand studiert. Sieht sie ein Zerrbild, bedeutet das nichts Gutes: weder für heute noch für morgen.
„Gefallene Naturen“. Das „Herr der Fliegen“-Szenario ist aber nach Meinung von Experten durchaus ein realistisches. „Dass der Mensch von Natur aus gut ist, wie Jean-Jacques Rousseau behauptet hat, stimmt einfach nicht“, sagt Bernhard Bueb, ehemaliger Leiter des deutschen Elite-Internats Salem und berühmt-berüchtigt für sein Plädoyer für mehr Disziplin. „Christlich gesprochen sind wir gefallene Naturen: Wir wurden gut geschaffen, aber dann kam doch noch das Böse hinzu.“ Der Erziehungsexperte Jan-Uwe Rogge beschreibt das ähnlich: „Das Element des ,Bösen‘ schwindet zwar, je moralischer man wird. Doch die unmoralischen Reste bleiben in uns drin. Wichtig ist, dass wir lernen, diese Reste einzukapseln.“ (siehe Interview.) „In uns allen steckt der Wunsch, uns selbst zu behaupten. Wenn uns jemand zu nahe kommt, reagieren wir. Menschen wollen leben, überleben und ihre Interessen sichern. Das heißt aber noch nicht, grausam oder sadistisch zu agieren“, meint auch der deutsche Soziologe und Pädagoge Lothar Krappmann.
Wo diese Trennlinie verläuft, müssen Kinder allerdings erst lernen. „Meine Erfahrung hat gezeigt, dass Kinder und Jugendliche, wenn man sie allein ohne Erwachsene lässt, dazu neigen, Machtstrukturen aufzubauen, in denen Starke über Schwachen stehen, einander zu mobben und zu quälen“, sagt Bueb. Daher entscheidet letzten Endes nicht die Natur eines Kindes, sondern meistens die Erziehung, ob es gelingt, das Gute in einer Persönlichkeit zu stärken und zu vermitteln, wie man mit seinen „bösen Trieben“ umgeht.
In erster Linie liegt die Verantwortung dafür bei den Eltern. „Aggression hat der Mensch in sich, zur Gewalt wird er hinerzogen“, meint der Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien, Max Friedrich. Im schlimmsten Fall bildet sich eine „Kaskade der Gewalt“, wie Friedrich das nennt: „Papa und Mama sind streng und stark, gegen die kann ich mich nicht wehren. Also wende ich mich gegen die Geschwister, aber die lassen sich das auch irgendwann nicht mehr gefallen. Dann kommt der Hund dran, aber der beißt, die Katze kratzt. Dann die Blumen. Und schließlich landet man beim Vandalismus.“
Oder bei einem Schwächeren, an dem man das ausprobieren kann, was man in seinem bisherigen Leben – mitunter am eigenen Leib – erfahren hat: nämlich dass „Bizeps Großhirnrinde sticht“ (Friedrich), egal, mit welchen Mitteln. Solch ein Fall von Weitergabe von selbst Erlebtem schockierte im vergangenen Jahr die britische Öffentlichkeit. Ein elfjähriges Brüderpaar hatte einen Neun- und einen Elfjährigen angegriffen und stundenlang gequält: mit brennenden Zigaretten, Glasscherben, Ziegelsteinen und einem Messer. Die Brüder hatten zwar auch Handys, Geld und Turnschuhe ihrer Opfer geraubt, gaben aber bei der polizeilichen Vernehmung an, ihnen sei halt fad gewesen. Überlebt haben dürften ihre Opfer nur deshalb, weil den Peinigern nach eineinhalb Stunden die Kraft ausging. Später stellte sich dann heraus, dass das Brüderpaar als Pflegekinder bei einer Familie lebte, weil der alkoholkranke leibliche Vater die siebenköpfige Familie regelmäßig windelweich geprügelt hatte und die Mutter den Kindern Medikamente ins Essen mischte, wenn sie einen ruhigen Abend haben wollte.
Panische Mittelklasse. Fälle wie diese sorgen für Entsetzen, werden aber von der Gesellschaft noch relativ leicht erklärt: mit sozialer Deprivation, gewalttätiger Unterschicht, Alkohol etc. Heikler wird es, wenn Fälle von Grausamkeit unter Kindern und Jugendlichen in einem Mittelschichtumfeld passieren, das der Meinung ist, ohnedies alles für seine Kinder zu tun – oder in einer Institution wie Odenwald, die lange Zeit als Aushängeschild galt.
Gerade für die Mittelschicht aber schlummert hier ein Problem. Diese oft sehr bildungsfreudige Klasse neigt immer mehr dazu, Kinder schon in frühem Alter „auszulagern“ – natürlich nur mit den besten Absichten. Kinder kommen früh in den Kindergarten, in Förderkurse, in Sportvereine, in die Schule, werden oft auch noch nachmittags fremdbetreut oder landen überhaupt im Internat. In allen Situationen aber, wo Kinder zusammenkommen, surrt der „Herr der Fliegen“ durch den Raum. Soziale Strukturen werden etabliert. „Besonders, wenn Kinder in die Schule kommen, müssen sie plötzlich ihr Leben weitgehend selbst gestalten und entwerfen. Die meisten sind nicht darauf vorbereitet, wie komplex das alles ist“, sagt Lothar Krappmann.
Terror im Kindergarten. Manchmal finden sich aber auch schon die Kleinsten in konfliktträchtigen Beziehungsgeflechten wieder. Margarete L. kennt so etwas aus dem Kindergartenalltag ihrer Tochter. Diese wurde von einem anderen Mädchen sehr erfolgreich dazu ausersehen, Opfer zu sein. „Hanni wurde gebissen, gekratzt, geschlagen, aber auch ausgegrenzt. Zuletzt hieß es dann: Hanni stinkt. Töten wir Hanni.“ Für eine Vierjährige eine äußerst grausame Erfahrung.
Je abgeschlossener ein solches System ist – sei es eine Jugendgruppe, ein Sportverein oder eine Schule –, umso schwieriger kann es für die Betroffenen werden, aus einem solchen Machtkreislauf auszubrechen. Internaten kommt da eine Sonderstellung zu. Bei allen Vorteilen, die Internate Schülern bieten können, stellen sie für Kinder einen Ausnahmezustand dar. Vor allem durch die Trennung von den Eltern aber auch dadurch, dass Internatsgesellschaften Gefahr laufen, „im eigenen Saft zu schmoren und eine eigene Welt zu schaffen, mit Herrschern und Untertanen“, wie Max Friedrich sagt. Zwar hat sich mittlerweile in vielen Internaten die Praxis aufgehört, dass jüngere Schüler von älteren „abgerichtet“ werden und nur auf den Tag warten, an dem sie ihre Stärke gegenüber noch Jüngeren ausspielen und diese genauso drangsalieren können, wie sie selbst drangsaliert wurden. Dennoch bleibt die Situation aus verschiedenen Gründen prekär.
„Schwache“ machen in die Hose. Zum einen deshalb, weil Kinder in unterschiedlichen Stadien der Beschädigung in einem Internat eintreffen. Kinder kommen, weil sie selbst wollen, weil ihre Eltern der Meinung sind, dass sie dort die beste Schulausbildung bekommen, weil die Eltern mit ihren Kindern nicht mehr zurechtkommen. Oder Berufe haben, die ihnen ein normales Zusammenleben mit den Kindern nicht erlauben. Nicht umsonst steigt die Zahl der Bettnässer in den ersten beiden Internatsjahren oft an. Was die Position potenziell schwacher Kinder nicht gerade verbessert.
Mathilde Zeman, Leiterin des schulpsychologischen Dienstes des Stadtschulrates, hat hier einige Erfahrung: „Nicht jedes Kind ist für ein Internat geeignet. Viele verkraften die Trennung von den Eltern einfach nicht, reagieren mit Aggression oder mit Rückzug, werden zum Opfer oder zum Täter. Und andere halten es einfach nicht aus, andauernd mit denselben Schülern konfrontiert zu sein.“
Genau dieser Aspekt macht geschlossene Systeme zu einem möglichen Nährboden für Täter-Opfer-Situationen. „Später im Leben kann man so eine Situation verlassen, als Kind ist man gefangen“, sagt Zeman. Wer in einem Internat den Stempel „Opfer“ aufgedrückt bekommen hat, läuft 24 Stunden am Tag Gefahr, diese Rolle spielen zu müssen. Wer seinen Ruf als „starker Mann“ oder „starke Frau“ zu verteidigen hat, ist gezwungen, Täter zu bleiben.
Dagegen hilft nur eines: aufmerksame Erwachsene, die den Überblick behalten und eingreifen, um jedem Kind zu seinem Recht zu verhelfen. „Quälerei kommt nicht nur in Internaten vor. In der Odenwaldschule haben Jugendliche, so weit ich weiß, jüngere Schüler gequält, während ein Lehrer dabeistand und nicht eingriff. Das ist nicht nur pädagogisches Versagen, das ist ein pädagogisches Verbrechen. Obwohl, das Wort ,Pädagogik‘ kann man streichen. Das ist ein Verbrechen“, sagt Jan-Uwe Rogge. Den „Herrn der Fliegen“ hätt's gefreut. Er ist übrigens niemand anderer als der Teufel.
Wenn moralische Erziehung funktioniert, ist das Verhältnis von Kindern zu Gewalt ein zurückhaltendes. Das deutsche LBS-Kinderbarometer aus dem Jahr 2005, in dessen Rahmen mehr als 2000 Kinder befragt wurden, ergab, dass Kinder mehrheitlich nur in Situationen Gewalt anwenden würden, in denen sie selbst angegriffen bzw. bedroht werden (30 Prozent) oder das Gefühl haben, sich selbst verteidigen zu müssen. Zehn Prozent wenden gar keine Gewalt an.
Jedes zehnte Kind gab allerdings an, Gewalt als alltägliches Mittel in Auseinandersetzungen und zur Lösung von Konflikten anzuwenden. Das gilt für „Streitereien“, als Antwort auf „Beleidigungen“ oder einfach „immer“.
Extreme elterliche Kontrolle spielt offenbar eine Rolle bei der Bereitschaft der Kinder, Gewalt anzuwenden. Kinder, die sich weniger durch die Mutter kontrolliert fühlen, geben signifikant häufiger an, dass sie nie Gewalt anwenden würden. Mit der Kontrolle durch den Vater gibt es keinen Zusammenhang.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2010)