Russland

Russische Gemütlichkeit in der Datscha

Mancher Datscha-Besitzer belässt es beim Alten, mancher baut an. Bei einem Spaziergang durch die dörflichen Siedlungen im russischen Outback sieht man Holzhäuser in allen Varianten.
Mancher Datscha-Besitzer belässt es beim Alten, mancher baut an. Bei einem Spaziergang durch die dörflichen Siedlungen im russischen Outback sieht man Holzhäuser in allen Varianten. Imago
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Was wäre das größte Land der Welt ohne seine Rückzugsorte. Wochenends und in den Ferien flüchten die Städter aufs Land, in ihre Datscha. Oft halten nur mehr die Ferienhäuser das Dorfleben im russischen Outback aufrecht.

Wenn im Winter der Schnee unter den Sohlen knirscht, die Eisschollen in der Moskwa ineinander verschweißen und der Smog über der Stadt vor den frostigen Temperaturen flüchtet, geht den Moskowitern das Herz auf. Am Wochenende flüchten diejenigen, die es sich leisten können auf ihre Datscha in der Oblast Moskau, oder Podmoskowje, wie die Einheimischen das Umland nennen. Beziehungsweise darüber hinaus. Dabei empfiehlt sich, per GPS zu überprüfen, wann und wo die Verkehrslage am günstigsten ist, denn eine Zwölf-Millionen-Einwohner-Stadt mit dem Auto zu verlassen verlangt gute Planung und starke Nerven. Mikael, unser Gastgeber, scheint gelassen und manövriert den überheizten Lada geschickt durch die fünfspurigen Autoschlangen. Seine Datscha liegt nordöstlich von Moskau, inmitten eines der größten Naturschutzgebiete Russlands. Die einbrechende Dunkelheit lässt die Birkenwälder im Schnee wie in einem Schwarz-Weiß-Film erscheinen. Kaum unterscheiden sich die grauen Fassaden vereinzelter Gebäude vom dicht verhangenen Himmel. Nur ab und zu reflektieren kilometerlange Schneewüsten das Licht in die Dämmerung.

Goldene Türme, goldener Ring

„Sneg“, mein erstes Russischvokabel heißt Schnee! Mikael spricht kaum Englisch, er hat es irgendwann in der Schule gelernt, aber die Gelegenheit, mit Ausländern zu sprechen, ergibt sich selten. Er erzählt uns alles Mögliche über seine Heimat, die Fußball-WM im Vorjahr und Sehenswürdigkeiten in der Umgebung. Soweit wir ihn verstehen, befinden wir uns jetzt im Goldenen Ring. Der Wiege Russlands, mit Geschichten vom Fürstentum Wladimir-Susdal bis zum Zentrum des modernen russischen Staates. Auch ohne große Russischkenntnisse wird einem schnell bewusst, dass es unter der Schneedecke einiges zu entdecken gibt. Aus ihr heraus ragen meist nur die typischen goldenen Kuppeln der orthodoxen Kirchen. Sie haben den sowjetischen Autor Juri Bytschkow 1967 inspiriert, das Gebiet erstmals den „Goldenen Ring“ zu nennen. Hier liegen verschlafene Städte wie Susdal oder Rostow Weliki, während in Jaroslawl und Wladimir damals schon gerne Besucher aus dem Ausland herumgeführt wurden. Heute zählt der Goldene Ring zu den beliebtesten Zielen heimischer und internationaler Touristen. Wir erwachen aus unserer Zeitreise im Sternenstädtchen Swosdny Gorodok, wo unvermittelt eine Rakete am Straßenrand auftaucht. Diese Nachbildung lädt zu einem Besuch im Kosmonautentrainingszentrum Juri Gagarin ein. Allein die Vorstellung, dass der erste Mensch im Weltall hier in unmittelbarer Nähe mit seinem MiG-15-Kampfjet abgestürzt ist, passt so gar nicht in die romantische Winterlandschaft.

Ort der Inspiration

Mikaels Großvater hatte sozusagen Glück, er bekam die Datscha nahe dem kleinen Dorf Kirtasch Ende der 1980er-Jahre vom KGB geschenkt. Er hat sich das Häuschen am Land durch besondere Dienste als Parteifunktionär im Fernmeldeverkehr verdient. Andere Begünstigte waren jene, die sich gleicher als gleich verhalten haben. Auch systemtreue Künstler wie der Schriftsteller Boris Paternak kamen in den Genuss einer eigenen Datscha und fanden dort die nötige Ruhe und Inspiration zu ihren Werken. Pasternak war geradezu besessen vom Datschen-Schreiben. In der Zurückgezogenheit entstand schließlich sein berühmtester Roman, „Doktor Schiwago“.

Die meisten der bunten Holzhäuser mit aufwendig geschnitzten Verzierungen sind im Winter unbewohnt und versinken regelrecht im Schnee. Fast hätte ich die Orientierung verloren bei einem ersten Spaziergang in dieser weitläufigen Kleinhaussiedlung, wäre da nicht das auffallende blaue Schild am Eingang unserer Datscha: „Avenue de Paris n°8“. Darauf ist Mikael besonders stolz, er hat es von seiner einzigen Reise nach Frankreich mitgebracht. Seine Datscha gleicht schon eher einem „Kottedschi“: Die ursprünglich 600 m2 große Parzelle wurde durch den Kauf des Nachbargrundstücks, um das Doppelte vergrößert, dank guter Beziehungen und seinem lukrativen Job für eine internationale Kosmetikfirma. Auf dem Grundstück steht ein richtig gemauertes Einfamilienhaus mit steilen Giebeldächern, Türmchen und mehreren Nebengebäuden.

Im Gartenhaus brennt ein offenes Kaminfeuer, die Wodkaflaschen stecken im meterhohen Schnee, bereit für den Begrüßungstrunk. Im Haupthaus biegt sich regelrecht ein langer Holztisch unter der Last unzähliger russischer Vorspeisen. Eigentlich sind es georgische Spezialitäten – und wir kommen in den Genuss einer „Supra“, ein Festessen, erklärt die Babuschka. Sie führt hier das Regiment in der Küche und verrät gerne ein paar ihrer Lieblingsrezepte, während sie geschickt eine Art Ravioli mit Faschiertem füllt. Huhn in Walnusssauce, Roter-Rüben-Salat mit Hering, Kaviar, Blinis aus Buchweizenmehl und ein Korb voll frischer Kräuter.

Koriander, Estragon, Petersilie und Sauerampfer kommen um diese Jahreszeit aus dem südlichen Georgien. Die eingelegten Gurken, Kraut und Rote Rüben aus dem Garten. Gemüse anzubauen gehört traditioneller Weise zum Datschenleben im Sommer, aber auch Pilzesammeln und Angeln. „Damit sichern wir uns den Vorrat für den Winter“, sagt die Babuschka und lässt sich ihr Weinglas auffüllen. Dabei steht sie auf für den ersten Trinkspruch: „Auf uns, liebe Freunde, ich spreche einen Toast auf die Gesundheit meiner Kinder und auf die Schönheit unserer Heimat.“ Das ist nur die Einleitung, erklärt sie feierlich: „Jedes Glas, ein Trinkspruch. Und jeder in der Runde kommt einmal dran.“ Im Laufe des Abends kommt da schon einiges zusammen. „Tak i zhivem. So leben wir eben. Zumindest am Wochenende in der Datscha.“

Skidoo, Schaschlik, Banja

Raum und Zeit verlieren sich irgendwo in tief verschneiten Birken- und Fichtenwäldern, steppenartigen Schneefeldern und unsichtbaren Seen. Nur das Brummen der Skidoos unterbricht die Stille. Im Konvoi gleiten die Motorschlitten durch den Märchenwald. Manchmal einer Spur folgend, die frisch am früheren Morgen von anderen gezogen wurde, dann wieder durch jungfräulichen hohen Tiefschnee. Erst als wir bei einer Art Jurte ankommen und dort bereits andere Motorschlitten parken, wird uns bewusst, dass hier noch andere Menschen leben. Die mit transparentem Plastik umhüllte Jurte empfängt uns mit der gemütlichen Wärme eines zentralen Ofens.

Vor Moskau

Sie dient als Treffpunkt aller Skidoo- und Hundeschlittenfahrer wie Schneewanderer. Jeder der hier Halt macht, sorgt dafür, dass das Feuer nicht ausgeht, bringt seine Jause mit und lässt die brauchbaren Reste – etwa eine halbvolle Wodkaflasche – für die Nächsten. In wenigen Minuten ist die Kälte draußen vergessen, es herrscht eine herzliche Atmosphäre zwischen Russen und allen anderen Nationalitäten, die sich hier für ein paar Momente unterhalten, als würde es keine sprachlichen Barrieren geben. Hüttengaudi auf Russisch. Drei lustige Damen verschwinden mit ihren Langlaufskiern in der Finsternis, während die Männer den Griller vor der Jurte anheizen. Es gibt Fladenbrot und Schaschlik. Dazu reichlich Wodka. Väterchen Frost hat keine Chance, Russen feiern Grillfeste auch bei minus 17 Grad und danach geht es in die Banja. Wer noch nicht genug hat von der Kälte, wirft sich nach der Sauna in den flockigen Schnee.Visum, Einladungsschreiben, Reisekran- kenversicherung: www.vhs-austria.com

Im Goldenen Ring: u. a. Susdal: besteht aus lauter Holzhäusern; Wladimir: malerische Altstadt, Goldenes Tor, Demetrios Kathedrale; Rostow Welikij: einer der ältesten Orte Russlands

Unterwegs: mit dem Zug von Moskau nach Wladimir ab Kurski Bahnhof oder per Mietauto ab Flughafen Domodedovo

Datscha mieten: Auf Airbnb findet man Ferienhäuser in allen Größen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 2.9.2019)

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