Die offenen Adern der Magyaren

Der so starke Rechtsruck in Ungarn ist eine Folge einer verfehlten Reformpolitik und einer Lebenslüge.

Wer vom südburgenländischen Jennersdorf nach Süden fährt, wird die Grenze nach Slowenien beim Ort Bonisdorf kaum noch bemerken: Diesseits wie jenseits ähneln sich Wohlstand, Preise, und sogar die Währung ist dieselbe. Wer aber von Jennersdorf nach Osten über Heiligenkreuz nach Ungarn kommt, erlebt einen Bruch in Kultur und Wohlstand. Für uns Österreicher ist das kein unangenehmes Erlebnis. Es öffnet sich ein wunderschönes, faszinierendes Land mit seinem einzigartigen Charakter. Dass es eine andere Währung gibt, dass die Armut größer ist, spielt für den Reisenden vielleicht keine große Rolle, für das Selbstbewusstsein der Ungarn aber schon.

Sie haben die Wende weit schlechter absolviert als viele andere ehemalige Ostblockbürger - und das nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Das politische und ökonomische System ist zwanzig Jahre danach noch immer fragil. Die jüngste Parlamentswahl mit ihrem Rechtsruck ist da nur eine Episode in der Geschichte einer latenten Instabilität. Weil acht Jahre lang notwendige Reformschritte von sozialdemokratischer Seite ausblieben, weil ein ganzes politisches System im Irrglauben lebte, es könne aus dem Nichts ein allumfassender Sozial- und Wohlstandsstaat sowie eine florierende Wirtschaft entstehen, fiel die politische Wende freilich diesmal besonders radikal aus. Die Hoffnung mag zwar nun beim rechtskonservativen Viktor Orbán liegen, doch auch er muss erst beweisen, dass er aus den Fehlern seiner ersten Amtszeit gelernt hat. Orbán hat seine liberale Haltung schon lange hinter sich gelassen. Er bewies bis 2002 vor allem ein zweifelhaftes Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie. Und seine damals überwiegend auf nationale Symbolik statt auf Pragmatismus ausgerichtete Politik war Grundlage für die heutige Wirtschafts- und Identitätskrise des Landes.

Der Fidesz-Chef wird erneut ein Land regieren, in dem sich bisher weder die Marktwirtschaft noch die Demokratie verfestigt haben. Der Kulturtheoretiker Lászlo F. Földényi erklärte kürzlich in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt" die Probleme seines Landes mit der historischen Erfahrung. Er behauptete, dass seine Landsleute nach dem Umsturzversuch von 1956 einer Lebenslüge aufgesessen seien. Sie fanden einen Kompromiss mit dem Kommunismus. Und dieser Kompromiss führte dazu, dass sie die Wende ab 1989 weit weniger als Gefühl der „Befreiung" empfunden hätten als die Bevölkerung von Ländern wie der Tschechoslowakei oder Polen. Dadurch blieb auch die naive Hoffnung „auf die Erlösung durch den Staat" erhalten.

Dieser Irrglaube hatte nicht nur wirtschaftliche Auswirkungen. Bis heute gibt es in Ungarn keine politisierte Gesellschaft, die dem zuerst aufkeimenden und nun deutlich gestärkten Rechtsradikalismus entschieden entgegentritt. Zwar wurde wütend gegen Premier Ferenc Gyurcsány auf den Straßen protestiert, als dieser nach den letzten Wahlen den Betrug an seinen Wählern selbstkritisch eingestand. Doch gegen eine völlig undemokratische Gruppe, die mit schwarzen Uniformen durch Roma-Siedlungen marschiert, die gegen Juden hetzt und die Demokratie infrage stellt, ist kein Protest zu mobilisieren.

Der Wahlausgang vom Sonntag ist die Untermauerung eines neuen magyarischen Nationalismus, in dem fälschlicherweise die Ursache für die Krise außerhalb des Landes und bei Gruppen im Inland gesucht wird, die schon bisher unterdrückt wurden. Taten von Organisationen wie dem IWF, der Ungarn vor dem Staatsbankrott gerettet hat und nun schmerzhafte Sparmaßnahmen einfordert, werden nicht als erlösend empfunden, sondern als ein internationales Diktat, das der Heilsbringung des eigenen Staates entgegensteht. Die EU, die Ungarn ebenfalls in schweren Zeiten zur Seite stand, wird gern als Last und nicht als Chance dargestellt. In der Lebenslüge vieler Ungarn gibt es im Inland nur einen Schuldigen: die Roma, die als Hemmnis des Erfolgs gebrandmarkt werden - als Ursache für Kriminalität und Armut.

Das ist der Stoff, aus dem neue soziale Konflikte entstehen, aber kaum notwendige Reformen. Viktor Orbán hat mit seiner neuen großen Mehrheit im Parlament eine Chance, daran etwas zu ändern. Es bestehen Hoffnungen, aber leider auch Zweifel, dass er es kann. Denn es wird ihm nur gelingen, wenn er seinen Landsleuten statt eines undifferenzierten nationalen Stolzes ein fundiertes Selbstvertrauen und den Glauben an eine Eigeninitiative abseits des Staates zurückgibt.

wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2010)

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