Türkei: Die Jagd auf die Gülen-Bewegung mit Prüfungsfragen

Fethullah Gülen.
Fethullah Gülen.(c) REUTERS (Charles Mostoller)
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Haftbefehle ergingen an mehr als 1000 Personen bei einer der größten Razzien seit dem Putschversuch.

Ankara/Wien. Die Prüfungen fanden bereits 2010 statt. Hunderte Männer und Frauen nahmen landesweit daran teil; sie waren Polizisten, die nach bestandener Klausur den Rang eines Kommissars erreichen wollten. Wer damals erfolgreich an dieser Prüfung teilgenommen hat, rückt nun in das Visier der türkischen Justiz: Am Dienstag führte die Polizei Razzien in mehr als 75 Provinzen durch und nahm mehr als 120 Personen fest. Haftbefehle ergingen an insgesamt 1112 Menschen – die Liste der Betroffenen könnte sich in den nächsten Tagen noch erweitern. Ihnen allen wird erstens vorgeworfen, bei der Prüfung geschummelt zu haben, und zweitens dem Netzwerk des islamischen Predigers Fethullah Gülen anzugehören. Zwei Vorwürfe, die Hand in Hand gehen.

Anhänger Gülens waren in staatlichen und semi-privaten Strukturen wie Bildung, Justiz und Sicherheit sehr stark vertreten, bis spätestens mit dem blutigen Putschversuch 2016 die regierende AKP die Zerschlagung des Netzwerkes zur Causa prima erklärte. Die Regierung macht den im US-Exil lebenden Gülen für den gescheiterten Staatsstreich verantwortlich. Es war bereits vor dem Putschversuch ein Art offenes Geheimnis, dass Prüfungsfragen für Behördenjobs in Gülen-Kreisen die Runde machten. Als die AKP noch nicht mit dem Prediger gebrochen hatte, drückte sie angesichts dieses Treibens ein Auge zu, sind sich politische Beobachter sicher; somit konnte die unheilvolle Allianz eine loyale und religiöse Belegschaft sicherstellen. „Von 120 Fragen haben sie uns 80 gezeigt“, sagte jüngst ein Unteroffizier in der Provinz Kastamonu vor Gericht. „Um die Fragen zu bekommen, musste ich ein Fünftel meines Gehalts spenden, eine Frau aus dem Netzwerk heiraten und umziehen, falls sie mich woanders brauchten.“

Aussagen und Indizien wie diese gibt es zuhauf, nur stellt sich die Frage, unter welchem politischen und juristischen Druck sie zustande kamen. Die Regierung setzt auch zweieinhalb Jahre nach dem Putsch den Druck auf das Gülen-Netzwerk fort, ohne jedoch die eigene frühere Unterstützung der Bewegung kritisch zu hinterfragen. Dass die islamische Gülen-Bewegung im Untergrund und klandestin handelte und handelt, ist spätestens seit den 1970er-Jahren bekannt.

Auf die Spur mit den Prüfungsfragen aus dem Jahr 2010 kam die Polizei nach einem anonymen Hinweis, berichten regierungsnahe Medien. In diesem Fall hätten die Betroffenen auf die Fragen einheitliche Antworten gegeben; die in dieser Hinsicht verdächtigen Namen seien auf einer CD aufgetaucht. Die aktuelle Razzia gehört zu den größten seit dem gescheiterten Coup.

Wahlkampf voll angelaufen

Bei der Jagd auf die Gülen-Bewegung haben die Behörden bestimmte Systematiken. Verdächtig sind zunächst Mitarbeiter in eigenen Reihen, die eine der Bildungseinrichtungen von Gülen besucht, oder dort gearbeitet haben. Das gleiche gilt für Mitarbeiter von Gülen-Firmen, Gülen-Zeitungen und anderweitigen Institutionen. Verdächtig sind aber auch jene, die lediglich ein Konto bei der Gülen-nahen Bank Asya hatten oder den verschlüsselten Kurznachrichtendienst ByLock benutzen. Seit dem gescheiterten Putsch haben die Behörden mehr als 150.000 Mitarbeiter und Militärangehörige entlassen, rund 77.000 Personen wird derzeit der Prozess gemacht.

Indessen ist in der Türkei der Wahlkampf voll angelaufen: Am 31. März finden die Kommunalwahlen statt. Im Ankaraner Bezirk Keçiören sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einer Wahlkampfveranstaltung: „Niemand kann es mit uns auf kommunaler Ebene aufnehmen.“ Dass Erdoğan just in Keçiören auftrat, ist kein Zufall: In allen Wahlen seit Gründung der AKP hat der Bezirk für sie gestimmt. Kampffelder für die Regierung wird daher wohl nicht das zentrale Anatolien sein, sondern der kurdische Südosten, die traditionell sozialdemokratische Agäis-Küste sowie Großstädte wie Istanbul, Ankara und Izmir. „Die AK Partei hat keine Probleme“, zeigte sich Kulturminister Numan Kurtulmuş jüngst sicher, „wir gehen als Favoriten in die Wahl. Und am Ende werden wir die Nummer eins sein.“

AUF EINEN BLICK

Putschversuch. Seit dem gescheiterten Coup in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 haben die türkischen Behörden mehr als 150.000 Behördenmitarbeiter und Militärangehörige entlassen, darunter 150 Generäle und Admiräle. Derzeit wird rund 77.000 Menschen der Prozess gemacht. Nach der jüngsten, landesweiten Razzia am Dienstag ergingen Haftbefehle an 1112 Personen, die dem Gülen-Netzwerk angehören – und bei einer Prüfung geschwindelt haben sollen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2019)

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