Alkoholfreie Spirituosen für Teilzeit-Abstinenzler

Vorreiter. Ben ­Branson von Seedlip begann 2014 auf der ­familieneigenen Farm zu experimentieren.
Vorreiter. Ben ­Branson von Seedlip begann 2014 auf der ­familieneigenen Farm zu experimentieren.(c) Beigestellt
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Destillieren muss nicht zwangsläufig mit Alkohol enden. Start-ups ohne Promille blühen nicht nur in der Fastenzeit auf.

Shirley Temples langes Leben endet allmählich. Denn während die meisten den Kinderstar heute erst ergooglen müssen, stand der gleichnamige Cocktail lang an der Spitze der alkoholfreien Baroptionen: Bunt wie ein Kindergeburtstag, stigmatisierte die Grenadine-Ginger-Ale-Kombination jeden, der ihn bestellte. Doch 2019 erleben wir die erste Fastenzeit, in der mit einem Gin & Tonic ohne Alkohol angestoßen wird. Das Trendthema der Spirituosenindustrie heißt aktuell nämlich „nicht alkoholische Destillate".

Bevor jetzt die Sprachpolizei ausreitet: Zum Unterschied von Spirituosen, die von Gesetz wegen (zumindest 15 %) Alkohol enthalten müssen, bezeichnet „destil­lare" nur das Heruntertropfen des kondensierten Dampfs in einer Brennblase – das kann auch alkoholfreies Kondensat sein. Bisher fungierte an der Bar etwa der italienische Crodino als Bitteraperitif ohne Alkohol, den sich Campari- oder Aperol-Fans als „Spritz" schmecken ließen: „Vor allem auch in der Fastenzeit ist der Drink ohne Alkohol besonders angesagt", so Kerstin Kientzl von Campari Austria. Die destillierten „herbal waters" oder „Hydrosole" sind aber tatsächlich Neuland für Abstinente. Denn im Gegensatz zu den Verfahren, bei denen vergorenen Produkten ihr Alkohol und damit leider auch viel Geschmack entzogen wurde, bleiben bei der Wasserdestillation die Aromen erhalten.

Kreativität. Barkeeper weltweit reißen sich derzeit um alkoholfreie Cocktailbasen.
Kreativität. Barkeeper weltweit reißen sich derzeit um alkoholfreie Cocktailbasen.(c) Rob Lawson

Hydrosol-Highball. Diese neue Leichtigkeit des Drinks stellt ein Kind des Ginhypes dar. Denn die komplexe Kombinatorik der diversen Pflanzenauszüge, der sogenannten Botanicals, für den Gin hat den Fokus auf das Auslaugen von Aromen befördert: Kalt oder warm, kurz oder lang, mitdestilliert oder am Ende zugefügt, all das zählte plötzlich. Bartender blätterten im Chemiebuch und entdeckten die selbst herzustellenden aromatisierten Wässer, die sich zudem noch karbonisieren lassen. Ein Kokosnusssoda? Kein Problem!

Technisch schließen die alkohollosen Brenner an die Alchemisten an. Spagyrik nannten diese den „Auszug der Essenz", eine Zwischenstufe auf dem Weg zum Stein der Weisen. Und ein Rezeptbuch aus dieser Zeit steht auch am Beginn des bisher erfolgreichsten nicht alkoholischen Destillats. Respektive war es die Frage „Ist es zu viel verlangt, sich von einer Bar etwas Erwachsenes und Komplexes zu wünschen?". Der Brite Ben Branson beantwortete sie 2014 selbst, indem er mit dem 1651 erschienenen „The Art of Distilling" auf der familieneigenen Farm zu experimentieren begann.

Dass seine mittlerweile drei Sorten für die Bar – „Spice", „Garden" und „Grove" – auch mit Design punkteten, ließ die Marke Seedlip schnell wachsen. 2016 erwarb der weltgrößte Spirituosenkonzern Diageo Anteile am Start-up, das vor allem in britisch geprägten Ländern aktiv ist. „Wir müssen mittlerweile ein halbes Jahr vorbestellen", heißt es etwa in Sydneys Trinkstätte Continental Delicatessen, wo man seit einem knappen Jahr mit der Nichtspirituose arbeitet – und etwa einen „No­­groni" mixt. Doch selbst in einem echten Wallfahrtsort des Cocktails, der American Bar im Londoner Hotel Savoy, hat die neue Alkfreiheit Einzug gehalten. Vier Drinks – etwa der „Nearly Negroni" mit Seedlip – stehen auf der Cocktailkarte. „Wir werden das noch ausbauen", gibt sich Head Bartender Maxim Schulte überzeugt vom Angebot für jene, die er distinguiert „designated drivers" nennt. Er selbst hat die Möglichkeiten alkoholfreier Drinks während seines Barengagements in Saudi­arabien ausgelotet: „Wir haben da mit Hydrosolen, Sous-vide oder aromatisiertem Akazienhonig gearbeitet, um den Cocktails möglichst viel Leben zu geben."

Intensiv. Der alkoholfreie Gin „Siegfried Wonderleaf“ wird ausdrücklich nicht zum Purtrinken empfohlen.
Intensiv. Der alkoholfreie Gin „Siegfried Wonderleaf“ wird ausdrücklich nicht zum Purtrinken empfohlen. (c) Beigestellt

Ergänzung, nicht Ersatz. Hydrosol-Fan Schulte hat ein Wiener Pendant, denn auch Philipp M. Ernst von der Josef Bar verkauft Seedlip als Gin & Tonic ohne Promille. „Es kommt wirklich gut an bei unseren Gästen, wir haben bis jetzt nur positive Reaktionen bekommen." Gerade hat der Wiener Barchef eine Bestellung für alkoholfreien Vermouth, Rum und Schaumwein aufgegeben, „denn wir werden in Zukunft generell mehr in die Richtung machen". Ernst verweist vor allem auf den Wegfall der sozialen Ächtung der Nichttrinker: „Der alkoholfreie Cocktail wird genauso serviert wie der mit Alkohol – spätestens ab der dritten Runde hänselt keiner mehr jemanden, der sich dafür entschieden hat."

Die Perspektiven sind jedenfalls auch abseits der Fastenzeit günstig: 35.000 Flaschen vom alkoholfreien Gin „Siegfried Wonderleaf" hat der größte deutsche Anbieter in der neuen Kategorie – die Bonner Rheinland Distillers – in nur vier Monaten verkauft. Die Gründer Raphael Vollmar und Gerald Koenen verweisen auf die durchaus komplexe Herstellung, die mehrere Verfahren der Aromengewinnung verbindet: „Nicht alle Botanicals eignen sich in gleicher Weise für eine alkoholfreie Extraktion. Das erfordert ein Umdenken bei Rezepturen, bei Mengen und beim Verfahren." Immerhin ein gutes Jahr Vorlauf steckte in der Konzeption des „Wonderleaf", das – ungewöhnlich genug für ein Getränk – nicht zum Purkonsum empfohlen wird. Denn durch den Wegfall des Geschmacksträgers Alkohol sind die Aromen so intensiv, dass sie erst in der Verdünnung den „richtigen" Geschmack ergeben.

Das „spagyrische Duo" Vollmar/Koenen hat dabei vor allem überrascht, „dass es Leute sind, die wir mit unseren bisherigen Produkten nicht erreicht haben. Nicht nur die klassischen Gin-Fans fühlen sich angesprochen, sondern vor allem auch eine weibliche Zielgruppe, die einen Wert auf Genuss und Healthy Living legt". Nach Jogging oder Bauch-Bein-Po auf einen Absacker zu gehen scheint ab sofort möglich: Hydrosole gegen Dehydrierung!

Tipp

„Wonderleaf" ist beim Vorarlberger Versandhandel Bevanda" um 18,90 Euro (0,5-Liter-Flasche) erhältlich, bevanda.cc Die drei Sorten Seedlip führt etwa die ­Tastillery zu jeweils 29,90 Euro (0,7 Liter), tastillery.com

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