Lost in Plovdiv - oder etwa doch nicht

Symbolbild Plovdiv.
Symbolbild Plovdiv. (c) APA/AFP/DIMITAR DILKOFF (DIMITAR DILKOFF)
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Während sich Plovdivs renovierte Innenstadt feiert, verfällt am Rande das Roma-Viertel.

Sonntagmorgen. Die Sonne taucht das Kreativquartier Kapana in goldenes Licht. Die Barbesitzer stellen ihre Stühle hinaus. In der Bar Katz und Maus oder nebenan im CU 29 mit der kleinen Kunstgalerie zischen die Kaffeemaschinen. Die ersten Gäste sitzen draußen. Der milde Wind spielt mit den bunten Wimpeln, die über den Kopfsteinpflastergassen flattern. Ein Zen-Moment: Alles ist gut.

Morgens erlebt Vaselina hier das entspannte Plovdiver Lebensgefühl Aylak besonders intensiv. Für sie ist es die „Fähigkeit, das Leben zu genießen, eine entspannte Wachsamkeit“. Die 33-jährige Marketingfachfrau arbeitet für „Lost in Plovdiv“, einen Onlinestadtführer mit Lokalzeitung. Wie fast alle jungen Leute hier spricht sie fließend Englisch. Viele haben im Ausland gelebt oder studiert. Nun kommen sie zurück. Vera ist eine von ihnen. Sie findet hier „so viele Möglichkeiten“. Auf ihrer Internetseite Green Revolucja, grüne Revolution, verkauft sie abfallfreie Produkte: wiederverwendbare Trinkhalme aus Metall, Naturkosmetik, Shampoo in Gläsern oder Zahnbürsten aus Bambus, die sie selbst entwirft. Bulgarien sei „für Start-ups ideal“, schwärmt die junge Frau, die in England Public Relations studiert hat. Überall habe man schnelles Internet. Die Steuern seien niedrig.

2012 hat die Stadt beschlossen, das verfallene, fast verlassene ehemalige Handwerkerviertel am Rande der Innenstadt wiederzubeleben. Die Verwaltung begann, leer stehende Läden für ein Jahr kostenlos an Gründer zu vergeben. Viele renovierten selbst, eröffneten Lokale, Clubs, Restaurants, Designerläden, Boutiquen für ausgefallene Souvenirs. Das Konzept ist aufgegangen. Die Leute kommen sogar aus der Hauptstadt, Sofia, zum Einkaufen, Feiern, Musikhören und wegen der Kunst. Valizar etwa hat zusammen mit seinen Eltern eine Bar aufgemacht und den Kellerraum zur Galerie umgebaut. Er kuratiert nicht – gezeigt wird, was Künstler ausgewählt haben.

Aufbruchstimmung

Neben der Kunst lockt die Musik Besucher in die Kapana. Am Eingang des Kreativquartiers hat sich Asiya ihren Traum erfüllt: Die begeisterte Tänzerin kündigte ihren Job als Anwältin in Sofia, um hier die erste Swingbar des Landes zu eröffnen. In dem stylishen Raum serviert ihr Team Cocktails nach Originalrezepten aus den USA der 1920er-Jahre. Asiya organisiert das jährliche Swingfestival mit zuletzt mehr als 800 Gästen, das nun Teil des offiziellen Kulturhauptstadtprogramms ist. „Die Leute sind oft so begeistert, dass sie auf der Straße weitertanzen“, erzählt sie vom Plodiv State of Mind, wie die 38-Jährige das „Aylak“ genannte Lebensgefühl bezeichnet. „Das erreichst du, wenn du die Dinge mit Hingabe und Ruhe machst“, eine Art Flow. Ihn findet sie im Tanzen.

Plovdiv habe sich seit der Wahl zur Europäischen Kulturhauptstadt vor vier Jahren zum Positiven verändert: Die Einheimischen hätten an Selbstvertrauen gewonnen. Neuer Bürgerstolz hat Leben und Farbe geschenkt. Gleich um die Ecke, in der ältesten Bar der Kapana, serviert Vaselinas Redaktionskollege Ivo mehr als 100 Sorten Bier. Daneben betreibt er mit Freunden eine Online-Lokalzeitung. „Aylak“ sieht er skeptisch. „Dafür fehlt mir die Zeit“, erklärt er und saust zum nächsten Termin: eine spontane Demo. Ein Minister habe sich abfällig über Alleinerziehende und Frauen geäußert. Das wollen die jungen Leute nicht hinnehmen. In den bulgarischen Städten entsteht eine Zivilgesellschaft, die sich von den oft korrupten Politikern nicht mehr alles gefallen lässt. In den Social Media tauschen sich die Menschen aus, helfen sich gegenseitig, organisieren Ausflüge, Konzerte und Lesungen.

Dilian geht am liebsten durch die Altstadt. Die Kaufmanns- und Tabakfabrikanten-Häuser aus der Zeit der Wiedergründung Bulgariens im 19. Jahrhundert mit ihren Balkonen und Erkern strahlen frisch restauriert in kräftigen Farben. Einige alte Holz-, Lehm- und Steinhäuser sind zu Hostels und Hotels umgebaut. Beim römischen Amphitheater beschreibt der junge Autor die Landschaft zu seinen Füßen: Rote Dächer zwischen grünen Hügeln, in der Ferne verschwimmen am Stadtrand die Konturen der Plattenbauten mit der Kulisse schneebedeckter Berge im Dunst.

Plovdiv, wie Rom auf sieben Hügeln erbaut, hat Aussichtsplätze, auf denen die Locals die Sonnenuntergänge genießen. Von der Fußgängerzone führt ein Weg zwischen einfachen Häusern des frühen 20. Jahrhunderts hinauf, leise rauscht im Tal der Verkehr. Die Sonne verschwindet hinter dem gegenüberliegenden Aljoscha-Hügel mit dem überdimensionalen Sowjet-Soldaten.

Diskriminierung

Unten in der Stadt harrt ein weiteres Überbleibsel des real existierenden Sozialismus seines Schicksals. Seit Jahren steht das einstige Kino Kosmos leer: zwei, drei Etagen hohe Betonplatten mit Glasfronten und Ornamenten, von denen der Putz bröckelt, Brutalismus pur. Auch in Bulgarien haben sich nach 1989 einige wenige das einstige „Volkseigentum“ unter den Nagel gerissen. Bitter war die „Wende“ vor allem für die Roma, die während des Sozialismus zumindest einfache Jobs bekommen hatten. So erhielten sie eine Ahnung davon, was Integration bedeuten könnte. Ihre Arbeitsplätze sind längst verschwunden. Im Plattenbauviertel Stolipinowo am Stadtrand leben mehr als 50.000 Roma in einer eigenen Welt, eine der größten Siedlungen Europas. An der matschigen Straße in Stolipinowo schrauben Männer an alten Autos. Andere verkaufen Hausrat am Gehsteig. Es gibt die in Bulgarien beliebten Kioske, die von Zigaretten über Kekse, Wasser und Bier bis hin zu Klopapier alles für den Alltag anbieten.

Am Rand der Siedlung trotzen aus rohen Ziegeln, Holz, Plastikresten und Wellblech selbst gezimmerte Hütten dem Wetter: Illegale Bauten, die die Bewohner oft abreißen müssen – um sie dann schnellstmöglich wieder aufzubauen. Weil es an Baugenehmigung und Geld fehlt. Wasser holen viele aus dem nahen Fluss. Strom zapfen sie von einem der umstehenden Hochhäuser ab. Am Straßenrand türmt sich der Müll. Dazwischen spielen Kinder. Die meisten Männer schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, handeln mit allem Möglichen, arbeiten bei der Müllabfuhr oder als Straßenkehrer. Laut Schätzungen können bis zu 80 Prozent der Roma in Stolipinowo weder lesen noch schreiben.

Deshalb hat der deutsche Journalist Mirko Schwanitz mit einer lokalen Organisation in Stolipinowo mit Spenden aus Deutschland die Zukunftsnäherei gegründet, die Roma-Frauen zu Näherinnen ausbildet. Wer den sechsmonatigen Kurs schafft, hat, so Schwanitz, sicher einen Job im ersten Arbeitsmarkt. Maria Shishkova, Projektleiterin der Zukunftsnäherei, erzählt, die Textilunternehmen stünden Schlange, um die Absolventinnen einzustellen. Trotzdem bekäme das Projekt kein Geld, weder vom Staat noch von der Stadt.

Neli, die am Rande von Stolipinowo aufgewachsen ist, arbeitet heute bei der Stiftung, die das Europäische Kulturhauptstadtjahr organisiert. Sie erinnert sich an ihre Kindheit in den 90ern. Mit den Roma hatten weder sie noch ihre Eltern ein Problem. „Nachbarn wie alle anderen auch.“ Damals sei Rassismus kein Thema gewesen. Die Initiatoren wollen die Roma mit Projekten „zurück in die Stadtgesellschaft“ holen. Unter dem Motto „Together“ werden Künstler mit den Roma eine Brücke über den Fluss Maritsa errichten, die Stolipinowo mit der Stadt verbindet. Und der Handwerkskunst und Musik wird ein Forum geboten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2019)

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