Die neue Waterfront von Chicago

Chicagos Flussufer: von der No-go-Zone zum beliebten Treffpunkt.
Chicagos Flussufer: von der No-go-Zone zum beliebten Treffpunkt.(c) imago/PhotoAlto (Jérôme Gorin)
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Die Stadt der Hochhausikonen lässt sich seit einiger Zeit aus einer neuen Perspektive betrachten: vom neu belebten Ufer am Chicago River aus, denn beim Wasser weht ein frischer Wind.

In Sachen Riesenrad hatte Chicago einst noch die Nase vorn: Bereits vier Jahre vor den Österreichern hatte 1893 ein gewisser Herr Ferris, der bis heute im Englischen als Namensgeber für Riesenräder dient, sein 80 Meter hohes Werk vollendet und glänzte damit bei der Weltausstellung am Ufer des Lake Michigan. In Sachen Freizeitnutzung innerstädtischer Uferbereiche hätten sich die aktuellen Stadtväter aber durchaus etwas von den Wiener Kollegen abschauen können: Denn hier fristete das Ufer des Chicago River bis vor Kurzem noch ein Schattendasein – und das, obwohl der Fluss seit jeher die Lebensader der Stadt und sein Ufer Standort unzähliger Baudenkmäler ist. „Bis vor drei oder vier Jahren war hier niemand außer ein paar obdachlosen Menschen“, berichtet Bob Battalini, Guide bei einem der ältesten Bootsunternehmen der Stadt, der täglich Führungen auf dem Fluss und dem Michigan-See begleitet. Wo diese jetzt seien, wisse er auch nicht so genau, nuschelt er schnell noch hinterher, aber zumindest das Flussufer der Südseite wird heute von jeder Menge Menschen bevölkert, die die neueste Meile der Stadt, den sogenannten Riverwalk genießen, dessen vorläufiger Endpunkt im Herbst 2016 der Öffentlichkeit übergeben wurde.

Touristen, Hunde und Anzüge

Auf gut zwei Kilometern Länge zwischen der Michigan Avenue und Lake Street tummeln sich hier Touristen aller Darreichungsformen und Nationalitäten, werden die Hunde der Großstadt äußerln geführt, während deren Besitzer geschäftig telefonieren, werden Mittagspausen verbracht und die täglichen Laufkilometer absolviert. Hier hasten Menschen in Anzügen und Businesskostümen auf Sneakers zum nächsten Termin, lassen sich Hochzeitsgesellschaften genauso fotografieren wie Reisende mit Mundschutz und Sonnenhut an einem mäßig warmen Frühlingstag. Wer Zeit und Muße hat, sitzt direkt am grünen Wasser des Flusses in einer Weinbar, einem Coffeeshop oder auf einem der im Gras stehenden Liegestühle. Wer das Motto „Sehen und gesehen werden“ schätzt und früh da ist, kann mit seinem privaten Boot auch direkt vor der City Wine Bar anlegen, sich Getränke an Bord bringen lassen und das Treiben auf dem Pier beobachten. Und wer sowohl sportlich als auch mutig ist, kann sich ein Kajak oder Tretboot mieten und damit zwischen all den Ausflugsbooten und Wassertaxis die Perspektive von unten nach oben wählen.

Unterteilt ist der Riverwalk in verschiedene Coves genannte Buchten. Einige von ihnen bieten vor allem Kulinarisches und Freizeitaktivitäten wie eben die Kajaks an – diese gibt es beispielweise in der Cove zwischen Dearborn und Clark Street. Andere Bereiche sind als Freiluftvergnügungs- und Erholungszonen oder Informationsbereiche konzipiert: So ist die Water Plaza zwischen LaSalle und Wells für Familien und Kinder gedacht, die sich hier im Sommer unter choreografierten und mit Bewegungssensoren betriebenen Wasserstrahlen abkühlen und amüsieren können; der Bereich zwischen Wells und Franklin dient mit seinen Floating Gardens und Infotafeln über das Ökosystem der Weiterbildung.

Omnipräsente Kunst

Auf keinen bestimmten Abschnitt beschränkt ist dagegen die Kunst am River Walk: So finden sich zwischen Franklin und Lake Street seit 2017 Graffiti von Tyrue Slang Jones und Sam Kirk; zum Urgestein des River Walks gehört die Alliumskulptur von Carolyn Ottmers zwischen Columbus und Lake Shore Drive. Und das neueste und fraglos spektakulärste Kunstprojekt am River Walk findet streng genommen gar nicht auf diesem statt: Im Herbst vergangenen Jahres startete das Projekt „Art on the Mart“, bei dem großflächige Videoprojektionen das gegenüberliegende The Mart in eine gigantische Leinwand verwandeln – wobei das Wort bewusst gewählt ist. Hinter dem Namen verbirgt sich nämlich das Gebäude des Merchandise Market, das bei seiner Eröffnung im Jahr 1930 das größte der Welt war. Und bis heute mit einer Fassade von einem Hektar Fläche – was einem wirklich großen Fußballfeld entspricht – zum Flussufer hin zu beeindrucken vermag. Ab März werden hier wieder mittwoch- bis sonntagabends digitale Kunstinstallationen vom River Walk aus zu sehen sein. Wer rechtzeitig kommt, kann sich dafür einen Platz auf den Stufen des River Theater zwischen Clark und LaSalle sichern.

Bauikonen am Wasser

Aber auch wer den „neumodischen“ Teil der Stadt eher ignorieren will, kann sich in der „kleinen Schwester New Yorks“ wunderbar den Nacken verrenken – zumal als Architekturfan. Denn Chicago hat die amerikanische Baukultur mitgeprägt wie kaum eine zweite Stadt, hier finden sich legendäre Art-déco-Objekte wie das Carbide & Carbon Building der Burnham Brüder. Oder mit dem an die französische Renaissance angelehnten Wrigley-Gebäude aus dem Jahr 1921 das erste klimatisierte Bürohaus der Welt. In den 1940-Jahren prägte Ludwig Mies van der Rohe die sogenannte Zweite Chicagoer Schule, deren Zeugnisse inklusive van der Rohes berühmten Apartmentgebäudes 860–880 Lake Shore Drive überall in der Stadt zu finden sind. Und die 180 Meter hohen Zwillingstürme der Marina City, die sein Schüler Bertrand Goldberg 1964 erbaut hat, beeindrucken mit ihren 19 Stockwerken, die ein spiralförmiges, zum Fluss hin offenes Parkhaus bilden, immer wieder aufs Neue.

Auf einen Blick

Hin: Mit Austrian Wien–Chicago direkt.

Dort: Ganz neu und für Architektur- und Designfans: St. Jane, Boutique-Hotel im legendären Carbide and Carbon Building. Eine Hommage an die Art-déco-Blütezeit. stjanehotel.com

In coolem Rustic Chic, etwas preiswerter Hyatt Place in lässigem Viertel. hyatt.com

Leistbar, an einer der ersten Adressen: Congress Plaza Hotel am unteren Teil der Michigan Avenue, mit Blick auf die Fontänen. Alte Marmorne Hotelhalle. congressplazahotel.com

Unterwegs: Per Boot: Viele architektonische Sights lassen sich wunderbar vom Wasser aus erkunden. Extra Architekturtouren und Fluss- und Seeuferfahrten.

Zu Fuß: Abseits des Touristenstroms mit den Chicago-Greeters, Locals, die Besucher aus Begeisterung gratis herumführen. chicagogreeter.com

Auf Schienen: Die berühmte El (erhöh- te Straßenbahn, unter denen viele Verfolgungsjagden in US-Krimis stattfinden) fährt in Downtown einmal im Kreis – Loop heißt auch der innere Bezirk. Pink- und orangefarbene Linie.

Mit dem Lift, Ausblick mit Thrill: Beim Tilt in der 94. Etage des John Hancock Building kippt ein Teil der Fensterfront um zehn bis 30 Grad nach vorn, sodass man auf die Straße schauen kann. Es gibt Haltegriffe. 360chicago.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.03.2019)

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