Aus dem Fernsehen kennt man vor allem die offiziösen und glamourösen Bilder des Staatsballs. Lohnenswert ist aber auch ein zweiter Blick auf viele Dinge, die sich nicht so offensichtlich präsentieren.
Wien. Die Debütanten, das Eröffnungsballett und die Gesangseinlage, dazu einige Prominente und ihre Roben. Es sind Bilder wie diese, die vom Opernball hängen bleiben, die wohl auch die größte Strahlkraft haben. Aber der Ball ist mehr als die schillernde Fassade, und gerade der zweite Blick auf die nicht ganz so offensichtlichen Dinge ist ein lohnender. Ein Blick abseits der Bilder, die man aus der Fernsehübertragung kennt.
Das Labyrinth
Das Opernhaus ist so viel mehr als der Festsaal mit seinen Logen. Abseits von Walzer und Repräsentation spielt sich das Leben auf dem Ball vor allem auf den Gängen ab. Und legt man es richtig an, hat es sogar etwas von einem Abenteuerspielplatz, oder noch besser, von einem Escape Room. Denn am Tag des Opernballs ist das Gebäude mehr oder weniger komplett offen. Fast alle Gänge, Stiegenhäuser und Nebenräume sind für die Ballgäste zugänglich – und laden ein zum Entdecken. Und ja, im weitgehend symmetrisch aufgebauten Gebäude kann man auch die Orientierung verlieren. „Es ist ein totales Labyrinth“, sagt eine junge Besucherin, die durch ein Stiegenhaus marschiert. „Es gibt alles einmal links und einmal rechts – und es schaut alles gleich aus.“
Allerdings gibt es auch an fast jeder Ecke pfeilförmige Wegweiser zu sämtlichen Räumen und Attraktionen. Diese helfen bei der Orientierung enorm. Nur dass es eigentlich viel spannender ist, ohne Ziel Gänge, Stiegenhäuser und Kellerräume zu durchwandern. Schmucklose Wände, Stiegengeländer im simplen 50er-Jahre-Design oder eine Anlage hinter Gitter, die die Luftzufuhr zu den Garderoben regelt. All das sieht man bei einem regulären Opernbesuch kaum.
Die geheimen Räume
Ganz so geheim ist die Kantine eigentlich nicht. Und doch ist der Raum, der sonst dem Opernpersonal vorbehalten ist, ein Ort mit einer gewissen Aura. Die Wände sind voll mit Bildern ehemaliger und aktueller Künstler der Staatsoper, die nüchterne Einrichtung mit roten Sesseln und Holztischen ist ein Kontrapunkt zu den dick gepolsterten Möbeln der Logen. So wie das Cola-light aus der 0,5-Liter-Plastikflasche um 3,80 Euro ein anderes Lebensgefühl vermittelt als ein kleines Bier um neun Euro im Ballbereich. Die Atmosphäre ist fast schon heimelig, wenn auf einem der Kantinenplätze Tini Kainrath mit einem Kollegen zweistimmig „Something Stupid“ in ein Handy singt – während im Hintergrund die Eröffnungsarie Anna Netrebkos im TV läuft.
Es gibt aber auch die Orte, zu denen tatsächlich nur ein kleiner Kreis Zugang hat. Wenn etwa um Mitternacht die Künstler des Hauses und einige Ehrengäste im Carlos-Kleiber-Proberaum im vierten Stock zu einem Opernsalon zusammenkommen. Da sitzt dann etwa eine Runde mit Tenor Juan Diego Flórez und Staatsoperndirektor Dominique Meyer bei Sekt an einem Tisch, es werden Würstel und Gulaschsuppe gereicht – und am Ende wird im kleinen Rahmen gesungen. Es ist ein Raum des Rückzugs, in dem die Menschen, die sonst in der Oper arbeiten, ganz unter sich sind.
Die Orte der Stille
Rückzugsorte gibt es aber auch für alle anderen Gäste. Und ja, ab und zu tut es gut, sich aus dem Gedränge und dem Lärm ein wenig zurückziehen zu können. Die oberen Ränge der Oper sind ein solcher Ort. Nicht während der Eröffnung, natürlich. Da bezahlen Gäste dafür, dass sie von hier aus den Einmarsch der Debütanten und die musikalischen Einlagen sehen können. Doch danach wird es auf den Sitz- und Stehplätzen sehr einsam. Debütanten, die zum Ausschnaufen herkommen. Ballbesucher, die hier Selfies mit dem Ballsaal im Hintergrund machen. Und ein paar versprengte Besucher, die wie von einem Berg den Blick nach unten wandern lassen. Hier wird man in Ruhe gelassen. Und mancher Ballbesucher braucht das.
Der Antiwalzer
Der Dreivierteltakt im Festsaal gehört zur DNA des Opernballs. Doch auf Dauer können Kopf und Füße genug von Walzerklängen haben und nach Abwechslung gieren. Und diese findet sich in den vielen Nebenräumen und Kellern. Da ist der Jazzclub in der Galerie, die Disco im Keller (bespielt von Radio Wien mit Sounds à la Gloria Gaynors „I Will Survive“) oder der Heurige im Erdgeschoß, bei dem Wein aus Mörbisch mit Schrammelmusik kombiniert wird. Und dann ist da auch noch die Wolfsschlucht – angelehnt an eine Szene aus dem „Freischütz“ von Carl Maria von Weber. Allein, statt Oper ertönt dort eben volkstümliches Umtata. Wer's mag.
Die Skurrilitäten
Wenn einander in einem engen Stiegenhaus zwei Pärchen begegnen, die genau dort eine Plauderei starten, ist das ein Lehrbeispiel dafür, wie man es nicht macht. Vor allem, wenn oben und unten die Schlange wartet, um weiterzukommen. Aber ja, derartige Fälle gibt es. Und diese sind eigentlich eher ärgerlich als skurril. Und doch, es gibt auch Momente, die tatsächlich einen hohen Skurrilitätsfaktor haben. Wenn sich etwa während der Eröffnungszeremonie Dutzende Gäste in den Gängen vor den Fernsehern sammeln, weil sie keinen Platz mehr auf dem Parkett bekommen haben – und einige mit dem Handy vom Fernseher das Geschehen abfilmen, das wenige Meter neben ihnen live stattfindet. Das ist eines dieser Bilder, auf die man beim Opernball immer wieder stößt – und die es am Ende doch nie in die Fernsehübertragung oder die mediale Aufarbeitung schaffen. Nun, zumindest fast nie.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.03.2019)