Der Druck von Hunderttausenden Demonstranten auf den greisen Langzeitpräsidenten, Abdelaziz Bouteflika, scheint Wirkung zu zeigen.
Algier/Tunis. Für die Algerier ist ihr Präsident ein Phantom. Mit seinem Volk kommuniziert Abdelaziz Bouteflika seit Jahren nur noch schriftlich. Nach einem Schlaganfall im April 2013 wurde der 82-Jährige zum Pflegefall. Die wenigen TV-Bilder zeigen ihn im Rollstuhl, einen gebeugten Greis mit offenem Mund und glasigen Augen, der vor sich hinstarrt und sich kaum noch artikulieren kann.
Bouteflikas letzte öffentliche Rede liegt sieben Jahre zurück. „Meine Generation hat ihre Aufgabe erfüllt“, rief er damals am 8. Mai 2012 im Sportpalast der Stadt Sétif dem Publikum zu, „ihr Jungen müsst die Fackel übernehmen.“ Die Generation, die das Land 1962 von den Franzosen befreit habe, habe nicht mehr die Kraft, weiterzumachen. Aber schon zwei Jahre später kandidierte Bouteflika, der nie verheiratet war, erneut für das höchste Staatsamt und wurde ohne einen einzigen Wahlkampfauftritt offiziell mit 81,5 Prozent der Stimmen gewählt.
In sechs Wochen, am 18. April, will die allmächtige Nomenklatura aus Generälen, Oligarchen und Politikern der Regierungspartei FLN den Hochbetagten erneut als Marionette im Präsidentenpalast installieren. Doch diesmal legt sich die Bevölkerung landesweit quer. „Bouteflika – hau ab!“ und „Das Volk will den Sturz des Regimes“, skandierte am Wochenende eine schier unübersehbare Menge in der Hauptstadt, Algier, in der eigentlich seit 2001 alle Demonstrationen strikt verboten sind.
Geboren am 2. März 1937 in der Industriemetropole Oujda im Nordosten Marokkos, machte der Politiker nach dem Sieg der Nationalen Befreiungsfront (FLN) gegen die französische Kolonialmacht rasch Karriere. Von 1963 bis 1979 war er Außenminister. 1981 ging er ins Exil, um Ermittlungen wegen Korruption zu entgehen. 1987 kehrte er zurück, erklomm zwölf Jahre später den Gipfel der Macht.
Bürgerkrieg beendigt
Bouteflikas größter Verdienst ist die Beendigung des Bürgerkrieges mit bis zu 200.000 Toten, erwirkt durch eine Generalamnestie und abgesegnet durch zwei Referenden zur „nationalen Versöhnung“. Gleichzeitig jedoch wurde die Korruption immer extremer.
Hunderttausende waren an den vergangenen beiden Freitagen auf den Beinen, um sich den Frust mit ihrem verrotteten politischen System aus dem Leib zu schreien, das größte Aufbegehren des Volkes seit Jahrzehnten: „Mörderbande“, „Diebe“, hallte es durch die Straßen. In der Nacht zum Montag schließlich wichen Bouteflika, der sich nach wie vor in der Universitätsklinik von Genf aufhält, und seine eiserne Entourage erstmals einen Schritt zurück.
Falls die Algerier ihm auch für eine fünfte Amtszeit das Vertrauen schenkten, teilte er mit, werde er vorzeitig abtreten und einen Nationalkongress einberufen. Dieser solle Neuwahlen ohne ihn organisieren – ein halbherziger Vorschlag, der das aufgebrachte Volk kaum beruhigen dürfte. „Was für ein Schwachsinn. Niemand weiß, ob er noch lebt oder schon tot ist. Niemand weiß, wer diese Kommuniqués schreibt. Zu uns jedenfalls hat er seit Jahren nicht mehr gesprochen“, zitierte die französische Zeitung „Le Monde“ einen 20-jährigen Demonstranten in Algier. Am Freitag sollen die Proteste weitergehen. Dann wollen wieder Hunderttausende demonstrieren.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2019)