Im Kino: Männer, die speiben und schießen

The Sisters Brothers
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Der wilde Westen war selten so kärglich wie in „The Sisters Brothers“ – und selten so unheroisch: Diese Auftragskiller können killen, scheitern aber an der Zahnbürste.

Dem Western wird oft ein Hang zur Romantisierung vormoderner Lebenswirklichkeiten nachgesagt, der das Gedenken an kernige Mannsbilder und den Glauben an das Gesetz des Stärkeren aufrechterhalte. Aber selbst die glänzendste Abendsonne am Horizont konnte nie darüber hinwegtäuschen, dass John Wayne humpelte und niemand in der amerikanischen Gesellschaft jemals ernsthaft an der Schwelle zur Industrialisierung hätte leben wollen. Im Western wird schnell und viel gestorben. Selbst in den schönfärberischsten Beiträgen ist der Körper dem Risiko ständiger Waffengewalt ausgesetzt. Eine Schreckensvision.

Den Franzosen Jacques Audiard, bekannt geworden durch seinen harten Gefängnis-Thriller „Ein Prophet“ und sein Melodram „Der Geschmack von Rost und Knochen“ über eine verstümmelte Liebende, hat es für seinen ersten englischsprachigen Film „The Sisters Brothers“ auf das Terrain der archaischen Gründungsmythologie der USA verschlagen. Der 1850 spielende Western kann dem New-French-Extremity-Kino zugeordnet werden, das seit seiner Entstehung – ums Millennium herum – für ungeschönten Körperrealismus und explizite Gewaltdarstellungen im jungen französischen Film steht.

John C. Reilly und Joaquin Phoenix spielen zwei ungleiche Brüder, Eli und Charlie Sisters, die im Auftrag ihres betuchten Vorgesetzten (Rutger Hauer) einen Pakistaner niederstrecken sollen, der im Besitz einer kostbaren Formel zur Herstellung eines Wundermittels ist, das Gold in Gewässern sichtbar machen soll. Bis sie ihr Mordopfer aufgespürt haben, kann man sie regelmäßig beim Speiben, Onanieren, Defäkieren und Urinieren beobachten. Wenn sie nicht gerade das tun, gehen sie ihrer Arbeit nach, was so viel heißt wie dass sie zahllose Menschen ohne mit der Wimper zu zucken abknallen.

Ein „authentischer“ Western

Anders als Tarantino oder die Coen-Brüder, die das altehrwürdige Western-Genre vor allem als Fundgrube zum Zitieren und Variieren seiner Konventionen verwenden, sagte Audiard, ihn hätten ausschließlich die realen Lebensgewohnheiten der Amerikaner in den frühen 1850er-Jahren interessiert, nicht ihre filmischen Verarbeitungen 50 bis 120 Jahre später. Das Streben nach Authentizität in einem Genre, das oft von Heroisierung und dem Pathos malerischer Landschafts-Panoramen lebt, ist ungewöhnlich, geht aber komplett auf. Audiard bricht alles auf den Körper zurück – das äußert sich auch in der Kameraführung, die immer nah an den Figuren bleibt und pittoreske Bildhintergründe vermeidet. Nach ein paar durch die Nacht blitzenden Gewehrfeuern, die für kurze Sekunden den seltenen Anblick einer Totalen erlauben, haben die Sisters-Brüder ihr mörderisches Werk meist schon vollbracht und verkriechen sich wieder in trostlose Wälder, wo ihnen die Natur sadistische Streiche spielt . . .

Eine verschluckte Spinne sorgt bei Eli für surreale Fieberträume. Charlie hat die ständige Isolation in abgelegenen Einöden zum cholerischen Alkoholiker werden lassen. Selten kam einem der wilde Westen so kärglich und albtraumhaft vor wie hier. Zur Betonung des Physischen, das mitunter in regelrechte Körperhorror-Momente ausartet, gesellt sich in „The Sisters Brothers“ noch eine detailreiche und sinnliche Beschreibung von Innenräumen, die das Knarzen von Holzdielen hörbar macht – in Gebäuden, die kaum mehr als bessere Bretterbuden sind. Die USA sind noch im Aufbau begriffen, spürt man. Der Umgang mit den Errungenschaften des technologischen Fortschritts ist noch unbeholfen, wie ein gelungener Running Gag um eine Zahnbürste unterstreicht, die Eli, weil es ein modernes Gerät ist, falsch verwendet.

Die überraschende Pointe des Plots, der irgendwann um den intellektuellen Einwanderer und seine Zauberflüssigkeit kreist, verrät viel über den oftmals unbedachten Fortschrittsdrang im 19. Jahrhundert und nimmt ebenso die Hybris der Atombombe und die oft ignorierten Folgen zeitgenössischer Umweltverschmutzung vorweg. Und auch da wird Audiard wieder schonungslos körperlich, wenn er die menschliche Haut ausgerechnet bei der Verwirklichung eines Wunsches nach solidarischer Nähe als verletzlichstes Organ von allen hervorhebt. Ein Körper-Western, rau und originell.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2019)

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