Wer die größte Nase sucht

Düstere Slapstick-Szenen: Jiří Weils Roman aus dem besetzten Prag der Jahre 1942/1943.

Die beiden Magistratsarbeiter Antonín Becvár und Josef Stankovský wissen nicht, wer Felix Mendelssohn Bartholdy ist. Ihr Chef, SS-Anwärter Schlesinger, schreit: „Geht noch einmal an den Statuen entlang und guckt euch genau die Nasen an. Wer die größte Nase hat, ist der Jude.“ Es könne nicht sein, dass auf dem soeben zum „Haus der Deutschen Kunst“ geweihten Prager Rudolfinum ein Jude throne. Die beiden Schwejks legen den Strick partout der Komponistenstatue mit der größten Nase, dem „mit dem Barrett“, also Richard Wagner, um den Hals. Das ist die amüsanteste in Jiří Weils an düsteren Slapstick-Szenen reichem Roman „Mendelssohn auf dem Dach“. Bei den 22 Kapiteln des Buches handelt es sich um bilderbogenartig verkettete Episoden aus dem besetzten Prag der Jahre 1942/43 – bevölkert von einer Handvoll Figuren: Tschechen, Deutschen, Juden, SS-Bütteln und Gestapo-Schergen sowie diversen Zivilisten, die auf unterschiedliche Weise mit den Nazis kollaborieren. Kurz: eine literarische Versuchsanordnung im Ausnahmezustand.

Jiří Weil (1900–1959) griff in seinem erst posthum erschienenen Roman auf ein an Extremsituationen reiches Autorenleben zurück. Als begeisterter Kommunist und Spezialist für russische und sowjetische Avantgardeliteratur arbeitete er Anfang der 1930er im Verlag der Komintern in Moskau; zur Zeit des Hochstalinismus erfolgten Parteiausschluss und Verbannung nach Zentralasien, worüber er 1937 nach glückhafter Rückkehr in die Tschechoslowakei schrieb. Nach der Besetzung Prags durch die Deutschen wurde er Mitarbeiter jenes obskuren jüdischen Zentralmuseums, das die SS als „Museum einer untergegangenen Rasse“ organisierte. Der drohenden Deportation nach Theresienstadt entzog sich Weil 1943 durch fingierten Selbstmord. Sein autobiografischer Roman „Leben mit dem Stern“ wurde 1949 von den neuen kommunistischen Machthabern als „dekadent“ kritisiert. „Mendelssohn auf dem Dach“ gilt als richtungsweisend für Autoren der tschechischen Nachkriegsmoderne wie Milan Kundera oder Ivan Klima.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.