Robert Pfaller: „Es gibt eine Propaganda der Empfindlichkeit“

Robert Pfaller.
Robert Pfaller. (c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Sind wir noch kritikfähig? Nein, sagt der Philosoph Robert Pfaller. Die Tyrannei der Intimität und die Kultur der Postmoderne haben unsere Kritikfähigkeit zu Grabe getragen.

Sind wir heute weniger kritikfähig als vor 30 oder 40 Jahren?

Robert Pfaller: Ich glaube, das kann man tatsächlich sagen. Wenn man sich etwa einen „Club 2“ der 1970er-Jahre ansieht und ihn mit heutigen Diskussionsformaten vergleicht, wird das recht deutlich. In den heutigen Talkshows hat jeder Diskussionsteilnehmer einen Leitsatz, der am Anfang eingeblendet wird und an dem er bis zum Ende festhalten muss. Damals hingegen wusste man im Vorhinein nicht, was die Leute sagen würden, und es war auch möglich, dass sie im Laufe des Gesprächs ihre Meinung änderten. Das ist entscheidend für einen gelingenden, kritischen Austausch von Argumenten – entsprechend der Maxime Bertolt Brechts: Meinungen sind da, um ausgetauscht zu werden, und nicht, um sie zu behalten.

Warum wollen oder können wir uns heute keiner Kritik mehr stellen?

Das hat seine Gründe, wie mir scheint, in zwei zusammenhängenden Kulturentwicklungen. Die erste ist die von dem Soziologen Richard Sennett erkannte Entwicklung hin zu einer „Tyrannei der Intimität“. Früher haben Menschen im öffentlichen Raum viel stärker darauf geachtet, eine Form zu wahren. Sich in die Öffentlichkeit zu begeben hieß, eine Rolle zu spielen. Dies zeigte sich durch elegantere Kleidung, gewähltere Sprache, höflicheres Benehmen und vieles mehr. Seit den 1970er-Jahren hingegen versuchen wir zunehmend, im öffentlichen Raum so daherzukommen, wie wir es von den intimen Räumen gewohnt sind: in Freizeitkleidung, mit launenhaftem Benehmen und generellem Duzen. Somit begegneten früher die Menschen einander in der Öffentlichkeit gleichsam als Masken und waren dadurch geschützter und weniger empfindlich. Heute dagegen spüren sie den anderen sofort auf der eigenen Haut.

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