Für Identität ohne Identitäre

Pascal Lamy
Pascal Lamy(c) Katharina Roßboth
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Wer die EU nur wirtschaftlich begründet und die Unterschiede zwischen den Nationen überbetont, überlässt das Feld den Identitären: Plädoyer für die dringende Suche nach einer europäischen Identität – mithilfe der Anthropologie.

Viel ist vom europäischen Demokratiedefizit die Rede. Tatsächlich ist das Grundproblem des heutigen Europas nicht so sehr ein Mangel an „kratos“, an Macht, sondern an „demos“, an Volk. Zwar folgen die Institutionen der Europäischen Union den Regeln der liberalen Demokratie, sie werden aber nicht oder kaum von einem Zusammengehörigkeitsgefühl beseelt. Um mit Elie Barnavi zu sprechen: „Ohne emotionales Engagement und Wahrnehmung einer gemeinsamen Identität wird Europa hoffnungslos ,frigide‘ bleiben.“

Wir wissen heute, dass es nicht genügt, mit dem Blei der Wirtschaft zu arbeiten, um zum Gold der Politik zu gelangen. Eine Barriere trennt die Spezies des Verbrauchers, des Schaffenden, des homo oeconomicus von der Spezies des Bürgers, des homo civicus – und die Europäische Union hat sie bis heute nicht überwunden.

In Märkte verliebt man sich nicht. Mit dieser Barriere müssen wir uns beschäftigen. Wir müssen neue Wege finden, um die Forderungen der Bürger nach Identität, Wurzeln und Gemeinschaft mit den Erfordernissen wirtschaftlicher Effizienz zu versöhnen. Es wäre unklug, würden wir weiterhin nur unter rationalen Gesichtspunkten in das europäische Projekt investieren und uns selbstgefällig auf dem Argument ausruhen, dass ein Markt von 500 Millionen Verbrauchern nun einmal besser sei als ein Markt von 50 Millionen. Dies ist zwar absolut richtig, aber – um mit Jacques Delors zu sprechen – „man verliebt sich nicht in einen großen Markt“.

Wir sind in der Geschichte des europäischen Projekts an einem Scheideweg angelangt; wir können uns nicht mehr mit dem alten Dualismus zufriedengeben, der der europäischen Idee seit ihren Anfängen zugrunde liegt und folgendermaßen zusammengefasst werden kann.

Gefühle und Affekte kommen den Nationalstaaten und der Heimat zu, Vernunft und Effizienz – als Antwort auf die großen Probleme weltweit – dem vereinten Europa. Dieser Dualismus von nationaler Leidenschaft und europäischer Vernunft ist politisch äußerst gefährlich. Wenn man das europäische Projekt nämlich allein mit technokratischer Vernunft und wirtschaftlicher Effizienz begründet, dann überlässt man damit die identitären Leidenschaften jenen Identitären, die abgeschottete Nationen und ein abgeschottetes Europa befürworten – und die Rückkehr zu einem vermeintlichen Reinzustand, den die Moderne zerstört habe.

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