Die Chefin des sozialdemokratischen Renner-Instituts Maria Maltschnig und der frühere Abt des Stifts Heiligenkreuz Gregor Henckel-Donnersmarck diskutieren über Ungleichheit und Gerechtigkeit. Ein Streitgespräch.
Laut Armutskonferenz sind in Österreich 18 Prozent der Menschen armutsgefährdet, fünf Prozent besitzen 50 Prozent des Vermögens. Leben wir also in einem Land, in dem Ungleichheit und Ungerechtigkeit zum Himmel stinken?
Maria Maltschnig: Ja, ich bin auf jeden Fall der Meinung, dass wir in einer ungerechten Gesellschaft leben. Ich bin auch über die Entwicklung besorgt. Die Ungleichheit hat in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Dass so wenige so viel haben und so viele so wenig, ist kein Zustand, den man als gerecht empfinden kann.
Gregor Henckel-Donnersmarck: Ich fange natürlich bei der katholischen Soziallehre an. 1891 hat Papst Leo XIII. ausgehend von der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts, der Verarmung des Proletariats und der Kritik von Karl Marx und Friedrich Engels die Enzyklika „Rerum Novarum“ verfasst. Im Entwurf wurde vom „heiligen Eigentum“ gesprochen. Und der aus einer aristokratischen Familie stammende Leo XIII. hat mit roter Tinte immer das Wort „heilig“ durchgestrichen. Das Eigentum ist also nicht heilig, aber dennoch ein schützenswertes Gut. Man kann jenen, die etwas haben, nicht einfach etwas wegnehmen. Außer sie haben es auf verbrecherische Weise erworben. Allerdings dürfen wir nicht davon ausgehen, dass Leute, die etwas haben, automatisch Verbrecher sind. Es gibt nämlich eine gewisse Grundstimmung heutzutage, die da lautet: „Der hat was, also muss er ein Krimineller sein.“
Maltschnig: Das fände ich eine sehr überspitzte Art, Eigentum zu betrachten. Eine Gesellschaft, die sich staatlich organisiert, muss gewisse Regeln festlegen, wie sie die Güter des Gemeinwesens bereitstellt. Das erfordert natürlich auch einen Eingriff auf Eigentum. Wir nennen das Steuern. Steuern sind ja nicht da, um Eigentum zu bestrafen, Reiche also womöglich eines Verbrechens zu bezichtigen. Es geht vielmehr darum, unsere Gesellschaft zu gestalten. Und ich bin davon überzeugt, dass eine Gesellschaft nur ein gewisses Maß an Ungleichheit aushält. Wir wissen, dass es gleichere und ungleichere Gesellschaften gibt. Jene Gesellschaften, die sehr ungleich sind, funktionieren meistens schlechter. Henckel-Donnersmarck: Würden Sie sagen, dass es in Venezuela so gut funktioniert?