Es gibt so viel Wahres im Falschen

William Kentridge, Parasophia Composition
William Kentridge, Parasophia Composition(c) William Kentridge Studio, Johannesburg
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Lüge, Unsinn, Aberglaube: Nirgends war der Mythos so früh Kritik ausgesetzt wie bei den alten Griechen. Aber gerade ihre Mythen haben in Europas kollektivem Bewusstsein überlebt. Warum?

Im Anfang war das Wort. Aber es war noch kein „Logos“, weder die forschende Vernunft noch eine fest gefügte biblische Botschaft. Es war ein „Mythos“, was bei den alten Griechen zunächst auch nur Wort bedeutete. Es weitet sich zur Erzählung, zum Füllhorn an Geschichten, die sich verweben und wuchern, sich laufend verändern, während ihr Kern sich verfestigt: Eine symbolische Deutung für das Chaos der Welt.

Über viele Jahrhunderte wurden sie nur mündlich weitergetragen und bei Riten zelebriert, in Griechenland wie in allen frühen Kulturen. Später schrieb Homer seine Heldenepen und Hesiod seine Theogonie über die Entstehung von Kosmos und Göttern. Aber diese Autoren waren selbst noch halb mythische Gestalten, vom Nebel der Vorzeit verhüllt. Bis der Logos ihn vertrieb.

Die Philosophen, die ersten Wissenschaftler, entlarvten den Mythos als Lüge, Verblendung, lächerliche Fantasie. Und zudem, was Platon so erboste, als moralisch verwerflich: Die Götter sind sexbesessen und baden in Blut. Mit klarem Blick fanden sich auch Erklärungen für den allzu beliebten Unsinn: Für Euhemeros ging es in den Mythen um erfolgreiche Herrscher und weise Frauen, die man für ihre Verdienste zu Göttern erhob. Und später spottete der römische Satiriker Lukian: Helena, was für ein Trugbild! Nie im Leben führten Trojaner und Griechen zehn Jahre lang Krieg wegen einer schönen, geraubten Frau. Tatsächlich ging es, wie immer, um Macht und Reichtum. Erstaunlich modern wirkt die antike Kritik an Führerkult und verklärender Propaganda. Die Revolution der Vernunft fand im Mittelmeerraum viel früher statt, als im Rest der Welt. Doch seltsam: Alle anderen Mythen, vom babylonischen Gilgamesch-Epos bis zur nordischen Edda, sind verblasst und vergessen. Ausgerechnet die griechischen aber haben im globalisierten Kollektivbewusstsein überlebt. Warum?

Zunächst ist es den Sternen zu verdanken. Im tätigen Staunen über die Himmelskörper war früher alles vermischt, was wir heute sauber auseinanderhalten: die Astronomie im Vermessen der Umlaufbahnen und der Festlegung des Kalenders, die Astrologie im Spekulieren über eine schicksalhafte Wahrheit hinter dem Wunder und der Mythos, der Planeten, Monaten und Tagen die Namen von Göttern verlieh. Im Mittelalter wäre die Kirche als Hüter des Wissens diese heidnische Terminologie gerne los geworden. Aber auf die Exaktheit der antiken Astronomen konnte sie nicht verzichten, und es blieb beim Gesamtpaket. Mit den Namen blieb die Erinnerung – und die Künstler belebten sie neu.

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