Atomwaffen: Sicherheit und moralischer Skandal

(c) Peter Kufner
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Europa ist auf der Suche nach einer nuklearen Rückversicherung für Deutschland. Die Abschaffung von Atomwaffen bleibt eine Utopie.

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Die deutschen Soldaten, die am letzten Nato-Manöver in Nordeuropa teilnahmen, mussten sich bei ihren Kameraden aus anderen Ländern lange Unterhosen ausleihen, weil ihre eigene Armee sie nicht mit warmer Kleidung für einen Winterkrieg ausrüsten konnte. So wird es jedenfalls mit maliziösem Ton erzählt. Dass viele deutsche U-Boote und Kriegsschiffe nicht einsatzbereit sind, ist bekannt. Mit Müh und Not kann die Verteidigungsministerin jetzt das Geld für die Renovierung des Segelschulschiffs Gorch Fock aufbringen, die freilich auch in der Billigvariante etwa zehnmal so viel kosten wird wie ursprünglich vorhergesehen.

Zugleich spricht sich die Vorsitzende der Christlich-demokratischen Union Deutschlands, Annegret Kramp-Karrenbauer, die wahrscheinlich nächste deutsche Bundeskanzlerin sein wird, für einen europäischen Flugzeugträger aus. Deutschland würde sich allerdings schwertun, seine Kostenbeteiligung an einem solchen Riesenprojekt zu finanzieren, weil der sozialdemokratische Finanzminister das Budget für die Bundeswehr ab dem nächsten Jahr wieder gekürzt hat.

Aber was gehen das übrige Europa die deutschen Unterhosen, U-Boote, Schulschiffe und Sturmgewehre an? Mehr jedenfalls, als den Deutschen lieb sein kann. Spätestens seit die USA und Russland das Ende des INF-Vertrags über das Verbot landgestützter ballistischer Raketen und Marschflugkörper mittlerer Reichweite (zwischen 500 und 2000Kilometern) angekündigt haben, ist die militärische Kapazität Deutschlands zu einer europäischen Frage geworden. Vor allem in den USA wird seit Jahren (auch schon von Präsident Obama) Kritik daran geübt, dass Deutschland zu wenig für seine Verteidigung ausgibt. In Europa fragt man sich deshalb, ob die nukleare Garantie der USA für Deutschland noch gilt und ob es dafür einen Ersatz geben kann.

Deutschland profitiert jetzt von der „erweiterten Abschreckung“ durch die USA. Zu welchen Kosten und unter welchen Bedingungen das geschieht, ist ein latentes Problem in der Nato, und es ist jetzt akut geworden. Eine eigene deutsche Atomwaffe kommt nicht infrage: Das könnte angesichts einer latent pazifistischen und militärfeindlichen Stimmung keine Regierung durchstehen. Die beiden Nato-Atommächte Frankreich und Großbritannien haben aber wenig Neigung, Deutschland die „nukleare Teilhabe“ anzubieten.

Die russischen Mittelstreckenraketen, die der unmittelbare Anlass für die Aufkündigung des INF-Vertrags durch die USA waren, richten sich genauso gegen China wie gegen Europa. Die Notwendigkeit, darauf in Europa zu reagieren, ergibt sich aber nicht etwa aus der Gefahr offensiver militärischer Aktionen Russlands gegen den Westen, sondern aus der Logik des nuklearen Gleichgewichtsdenkens. Russland möchte zwar seine militärische Überlegenheit im postsowjetischen Raum sicherstellen und als europäische Großmacht gelten, aber eine direkte militärische Konfrontation mit der Nato sicher vermeiden.

Wie man eine gegnerische Atommacht in Schach hält, das hat der Westen im Kalten Krieg mit der Sowjetunion gelernt. Das entscheidende Element ist die Zweitschlagsfähigkeit. Dem Gegner muss klar sein, dass er im Fall eines Angriffs die eigene Auslöschung riskiert, weil der Angegriffene immer noch genug Reserven hat, zurückzuschlagen. Im Fall eines Angriffs müssen also beide Seiten mit dem sicheren Untergang rechnen (Mutual Assured Destruction). Voraussetzung dafür ist freilich immer ein gewisses Maß an gegenseitiger Durchschaubarkeit und, dass die jeweiligen politischen Führungen rational handeln. Das darf man etwa von Israel annehmen, Indien und Pakistan haben es bewiesen, bei Nordkorea ist man sich nicht sicher. Zusätzlich müssen zentrale Einrichtungen eines Landes und seine städtischen Agglomeration relativ ungeschützt bleiben.

Atomwaffen werden . . .

Das Paradox der totalen gegenseitigen Bedrohung als Garantie für die Sicherheit hat schon immer die Moralisten zutiefst empört. Dass Mutual Assured Destruction abgekürzt das Wörtchen „mad“ (verrückt) ergibt, war eine Bestätigung ihrer Abscheu. In Zeiten des Ausstiegs aus der zivilen Nutzung der Atomkraft (nur in Deutschland freilich) erscheint diese Logik vielen unerträglich. In Deutschland wurde darüber eine erbitterte Auseinandersetzung geführt. Anlass dazu war der Nato-„Doppelbeschluss“ 1979. Doppelbeschluss deshalb, weil das Angebot von Abrüstung mit einer Drohung kombiniert war. Sollte die Sowjetunion die atomar bestückten Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20, die sie in den an den Westen grenzenden Ländern des Warschauer Pakts stationiert hatte, nicht abziehen, würden die USA ihrerseits in verbündeten Nato-Ländern in Westeuropa Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper vom Typ Tomahawk aufstellen. Da die Sowjetunion nicht einlenkte, wurden diese Systeme dann auch in Deutschland stationiert. Orchestriert wurde das durch eine hysterische Stimmungsmache der „Friedensbewegung“, die wegen der Nato-Nachrüstung schon den Atomkrieg ausbrechen sah. Durch den INF-Vertrag wurde der Anlass zur Aufregung obsolet.

. . . produziert – nicht eingesetzt

Atomwaffen haben die paradoxe Eigenschaft, produziert zu werden, um nicht eingesetzt werden zu müssen. Das hat auch Nordkorea erfahren müssen. Zwar darf sich dessen Diktator geschmeichelt fühlen, schon zweimal den Präsidenten der USA „auf Augenhöhe“ getroffen zu haben, er ist aber nun auch in die unerbittliche Logik eingebunden, die da lautet, dass allein die Drohung mit dem Einsatz die vorbeugende Reaktion des Gegners auslösen kann. Mit seiner Atomwaffe hat sich Nordkorea zum direkten Objekt des Militärgiganten USA gemacht. Sein Erpressungspotenzial ist dabei geringer, als er es sich wünschen mag.

Der Ehrgeiz von Staaten, sich Nuklearwaffen zuzulegen, ist übrigens nicht so groß, wie man annehmen könnte. Südafrika, Kasachstan, Weißrussland und die Ukraine haben ihre Atomwaffen sogar aufgegeben, was man in Kiew nach der Einnahme der Krim durch Russland bedauert haben dürfte. Seit Mitte der Achtzigerjahre ist das Arsenal der neun Atomstaaten von über 70.000 Sprengköpfen auf 15.000 zurückgegangen. Auch ein Bruchteil davon würde – einmal eingesetzt – die Erde zu einem unbewohnbaren Ort machen.

Die Utopie einer Welt ohne Atomwaffen taucht immer wieder auf, gelegentlich bekommt eine obskure Organisation, die sich dafür einsetzt, sogar den Friedensnobelpreis. Aber der Welt wäre nicht geholfen, wenn der Wunsch in Erfüllung ginge. Um die Sicherheitseffekte zu erhalten, die von den Nuklearwaffen und den für sie entwickelten Strategien ausgehen, würde ein Wettrüsten im konventionellen Bereich mit ungeheuren Kosten beginnen. Es würde das Kriegsrisiko beträchtlich zunehmen, wenn die Staaten in die alten militärischen Muster zurückfielen.

„Krieg ist eine zu ernste Sache, als dass man ihn den Militärs überlassen könnte“, sagte der französische Staatsmann Georges Clemenceau. Man muss das Wort abwandeln: Er ist auch zu ernst, um ihn Pazifisten zu überlassen.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2019)

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